Vor den großen Fenstern des kleinen Cafés in Berlin-Mitte lässt sich die Stadt an einem frischen Herbsttag treiben. Menschen hasten vorbei, eingehüllt in dicke Mäntel und mit den ersten Tassen Kaffee in den Händen. Eine Frau sitzt allein am Fenster, blättert müde in einer Zeitung, die sich nur sporadisch um sie kümmert. Ihr Name ist Anna Müller, Lehrerin an einer Grundschule, vor fünf Jahren hat sie sich für Teilzeitarbeit entschieden. „Das Präsenzsein und die Verantwortung für 25 Kinder, das war mir einfach zu viel“, sagt sie, nog ein Schluck von ihrem Becher. Der Kaffee ist, wie so oft, lauwarm.
In Deutschland ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigungen auf einen neuen Höchststand gestiegen. Nach den neuesten Statistiken gestalten sich mehr als 20 Millionen Menschen ihren Arbeitsalltag in einem Teilzeitmodell. Ein Trend, der nicht nur die Landschaft der Arbeitswelt verändert, sondern auch die Gewohnheiten, Vorstellungen und Lebensentwürfe der Menschen in der Gesellschaft. Und doch wird, während draußen die City weiter pulsiert, immer weniger über die Motivationen und Herausforderungen gesprochen, die hinter dieser Entscheidung stecken.
Anna hat sich für Teilzeit entschieden, um ihre zwei Kinder zu betreuen. „Balance ist das Wichtigste“, erzählt sie, „aber das ist nicht immer ein Gleichgewicht, sondern eher ein Jonglieren.“ Oft führt diese Entscheidung dazu, dass ihre Wertschätzung am Arbeitsplatz sinkt, zumal ihre Kolleginnen und Kollegen in Vollzeit selten Kompromisse machen müssen. An ihrem Schreibtisch bleibt eine halbfertige Unterrichtseinheit zurück und frisst sich langsam mit einem Gefühl der Frustration in ihr. Immer wieder fragt sie sich: „Kann ich das wirklich alles bewältigen?“
Die Stadtszenen im Café sind Spiegel der vielfältigen Lebensrealitäten, die sich überall entfalten. Ein junger Mann mit einem Laptop im Schoss, der die Zeit vergisst und seine Anforderungen in eine individuelle Produktivität verwandelt. Am Nachbartisch sitzt ein älteres Paar und zerlegt zusammen ihre Pläne für den kommenden Winterurlaub, während sie über die Unbeständigkeit der aktuellen Arbeitsverhältnisse diskutieren. „Als ich jünger war, konnte ich mir eine Teilzeitstelle nicht vorstellen“, reflektiert der Mann. „Das wäre nie ein Schritt für mich gewesen, aber heute? Der Druck ist einfach anders.“
Auf den heimischen Fluren, in Meetings oder durch Aufzüge schleicht eine leise Sehnsucht nach Flexibilität und der Suche nach Sinn. Arbeitgeber bieten in vielen Fällen Teilzeitarbeit als Antwort auf angepasste Bedürfnisse an, doch subtil bleibt der Schatten der Unsicherheit. Die Frage, die sich durch die Ritzen der modernen Berufswelt zieht, lautet nicht nur, wie viel Arbeit ausgehalten werden kann, sondern auch, wie viel Leben der Job einem Menschen tatsächlich lässt.
Transportiert durch ein spindeldüres Lebensgefühl, entwickelt sich das Bild einer neuen Normalität, in der Freiräume und Verpflichtungen verheiratet sind. Christian, ein Softwareentwickler aus einer mittelständischen Firma, möchte ebenfalls Teilzeit arbeiten, um mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Aber: „Ich kann es mir nicht leisten“, sagt er und versucht seine Worte sorgsam zu wählen. „Wie komisch ist das – die Gesellschaft fordert, dass ich Teilzeit arbeite, aber gleichzeitig sagen sich die Vorgesetzten: ‚Wenn wir ein Projekt nicht rechtzeitig abschließen, wird niemand mehr bezahlt.‘“ Ein schmaler Grat zwischen Arbeit und Leben führt oft zu dem Gefühl der Ohnmacht.
Doch wie sieht die andere Seite der Medaille aus? Vor einem kleinen, ehemaligen Verlag in Hamburg erzählt Anna Berger, eine Personalberaterin, von den neuen Anforderungen, die diese Arbeitsmodelle mit sich bringen. „Arbeitgeber müssen jetzt echt aufpassen, was sie ihren Mitarbeiter*innen anbieten“, erklärt sie. Die Nachfrage nach Teilzeitarbeit hat nicht nur einen Anstieg der Anfragen ausgelöst, sondern auch eine Verschiebung der Werte, die die Ansprüche an Komfort und Zufriedenheit artikulieren. „Wer in Teilzeit arbeitet, ist oft motivierter, aber auch stärker belastet. Das muss endlich anerkannt werden!“
So wandelt sich das Bild der Arbeitswelt und eröffnet gleichzeitig neue Fragestellungen: Wie lächerlich ist eine Förderung von Teilzeitmodellen in einem systemischen Gefüge, das an langfristigen Verträgen und Volllast den richtigen Weg zur Erfüllung sieht? Die Bestrebungen, den Menschen und seine Lebensentwürfe ernst zu nehmen, scheinen oft nur ein frommer Wunsch zu sein.
Und während in der Stadt die Straßen mit der Herbstsonne überflutet werden, sitzen viele in den Cafés, durchforsten ihre Gedanken und plagen sich mit Entscheidungen, die ihren Wert im täglichen Leben untergraben. „Wenn ich an all die Stunden denke, die ich Teilzeit arbeite, bleibt nicht viel Zeit für mich, für meine Familie“, sagt Anna, als sie ihren Blick ans Fenster richtet, während der Trubel des Lebens draußen weitergeht.
Der Trend in Deutschland zeigt nicht nur eine Zunahme an Teilzeitbeschäftigungen, sondern auch die Konstanz der Herausforderungen, die zu einem Teil des Lebensentwurfs werden. Am Ende des Tages sind wir alle es, die entscheiden müssen, wie aktiv wir an unseren eigenen Lebensgeschichten mitwirken können.