Es ist ein sonniger Morgen im edwardianischen Viertel Islington, Nord-London. Während die Straßen allmählich voller werden, sitzt Helen, Mitte fünfzig, in ihrem kleinen Café am Rand der Upper Street und schiebt gedankenverloren einen Milchkännchen herum. Die Nachricht vom jüngsten Schritt der Bank of England, den Leitzins erneut zu senken, wirkt auf den ersten Blick wie ferner Theaterdonner. Doch so gern würde Helen wissen, wie das alles ihr Leben verändern wird.
Fünfmal in diesem Jahr hat die Bank of England den Schlüsselzins gesenkt – ein Signal, das Bilder von wirtschaftlicher Ungewissheit und vorsichtiger Hoffnung zugleich heraufbeschwört. Neun Milliarden Pfund sind in den letzten Monaten in den Anleihenkaufkanal der Notenbank geflossen, ein Versuch, das Vertrauen zu stützen und die Maschine der Wirtschaft am Laufen zu halten. Doch die Frage bleibt offen: Für wen ist dieser Geldsegen eigentlich gedacht? Und wer zahlt am Ende die Zeche?
Helen betreibt ihr Café seit über zwanzig Jahren. Die Kundschaft reicht von langjährigen Stammgästen bis hin zu Hipstern mit Laptop und gutem Cappuccino. „Die Leute geben weniger Geld aus“, sagt sie mit rauer Stimme. Die Inflation sitzt ihnen im Nacken, die Preise für alles sind gestiegen, besonders für Nahrungsmittel und Energie, erzählt Helen. Gleichzeitig spürt sie, dass die Arbeit nicht mehr so sicher ist wie früher: Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wechseln öfter, einige haben nur noch befristete Verträge. Es scheint, als schwanke der Arbeitsmarkt zwischen einer vorsichtigen Entspannung und einer latenten Angst vor dem nächsten Abschwung.
Die Bank of England, so versichern ihre Vertreter, navigiert in einem Schiffssturm zwischen zwei Riffen. Einerseits steigt die Inflation, getrieben von globalen Lieferkettenproblemen, Energiepreis-Explosionen und zuletzt auch von Investitionshemmnissen in wichtigen Branchen. Andererseits deutet sich an, dass die Wirtschaft an Schwung verliert: Die Beschäftigtenzahlen gehen zurück, die Löhne steigen weniger stark, und die Verbraucher greifen seltener zum Portemonnaie. Ein Dilemma, das viele Zentralbanken kennen, doch die Reaktionen auf diese Zickzack-Kurve sind alles andere als klar.
Neil, ein junger Bauarbeiter aus East London, steht für eine ganz andere Perspektive als Helen. Er hat seinen Job erst vor wenigen Monaten verloren, und obwohl es eine staatliche Unterstützung gibt, spürt er die Unsicherheit, die mit der Arbeitslosigkeit einhergeht: nicht nur finanzielle Sorgen, sondern auch den Verlust an Identität und Zukunft. „Wenn die Zinsen sinken“, sagt er pragmatisch, „werden Kredite billiger, aber ich frage mich, ob Unternehmen wirklich mehr Leute einstellen, oder ob sie nur warten, bis jemand nächste Woche kündigt.“
Im Konferenzsaal der Bank of England in Threadneedle Street läuft die Debatte hinter verschlossenen Türen intensiv. Jede Zinssenkung wird auf Herz und Nieren geprüft – nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich. Denn ein niedriger Zins belastet Sparer, die oft von Zinsen als stille Einkommensquelle unabhängiger sind. Die Rentnerin Marjorie, die in einer kleinen Gemeinde in Yorkshire wohnt, hat ihr ganzes Leben gespart. Die niedrigen Zinsen zwingen sie, ihr Sparverhalten massiv zu ändern, Geschichten von verschobenen medizinischen Terminen oder ausgedehnten Kellerräumen voller unverkäuflicher Güter inklusive. Für sie ist die Zinssenkung kein abstraktes Finanzinstrument, sondern eine Realität, die ihr die Freiheit in der Altersvorsorge einschränkt.
Auf der politischen Bühne tobt derweil eine Debatte um die Rolle der Zentralbank, die zunehmend unter dem Druck steht, mehr als nur Zahlen zu jonglieren. Anliegen wie soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und die Zukunft der Arbeit drängen sich in den Vordergrund. Die Entscheidung für niedrigere Zinsen ist nicht bloß eine technische Maßnahme zur Steuerung der Wirtschaft – sie berührt das Leben Millionen Menschen auf ganz unterschiedliche Weise.
Die britische Wirtschaft ist ein verstecktes Mosaik, zusammengesetzt aus kleinen Geschäften, großen Konzernen, hektischen Familien und stoischen Rentnern. In diesem Mosaik bedeutet ein halber Prozentpunkt Zinssenkung viel und doch auch wenig, wie ein geheimnisvoller Windhauch, der durch offene Fenster streicht: spürbar, aber ungreifbar zugleich. Helen hat ihren Cappuccino bezahlt, blickt kurz durch die Scheibe auf die Straße und denkt an Neil und Marjorie gleichermaßen. Ob der Kurswechsel der Bank das Land wirklich stabilisieren wird, weiß sie nicht. Aber sie weiß, dass die Veränderungen, die heute anstoßen, sich bald in den kleinen Geschichten ihres Alltags widerspiegeln werden.