Im Stadion der kleinen Dramen
Auf der Tribüne ist es still, die Luft bewegt sich kaum, als hätte das große Baseball-Stadion selbst den Atem angehalten. Der rechte Flügel des Spielfelds, wo die Sonne schräg einfällt und das Gras in sattem Grün leuchtet, ist die Bühne eines leisen, fast verborgenen Theaters. Dort sitzt Nancy Faust, eine Legende, deren Name nur in Baseball-Kreisen fluistert, aber deren Musik ein Stück amerikanischer Seele eingefangen hat – von Major-League-Baseballspieler*innen, deren Leben und Leiden ebenso authentisch sind wie die Bälle, die sie schlagen.
Nancy Faust, einst die Organistin der Chicago White Sox, hat in Jahrzehnten unzähliger Spiele eine erstaunliche Nische geschaffen: Sie versteht es, die sportlichen Dramen, die schmerzhaften und komischen Momente jenseits des Rampenlichts in ihre Melodien zu weben. Die Basis ihrer Inspiration sind nicht nur homerunträchtige Schläge oder dramatische Werferwechsel, sondern ebenso intime, beinahe schon verborgen wirkende Details: die allgegenwärtigen Hämorrhoiden manche Spieler, die Missgeschicke auf dem Spielfeld oder jene nächtlichen Exzesse, die den Menschen hinter der Uniform zeigen.
Man stelle sich das vor: Ein Mann, der tagtäglich vor Tausenden von Zuschauer*innen beweist, was es heißt, Kraft und Eleganz zu vereinen, kämpft nicht nur gegen seine Gegenspieler, sondern auch gegen schmerzende Analvenen. Ausgerechnet diese vermeintlich profane Schwachstelle findet ihren Platz in der Musik von Nancy Faust. Sie verbindet den scheinbar banalen Schmerz mit der pathosgeladenen Atmosphäre eines Baseballspiels. Eine Melodie, die schallt, wenn ein Spieler verletzt den Ball nicht fangen kann – in der leisen Hoffnung, dass Unvollkommenheit ebenso zum Leben gehört wie Heldentaten.
Die heute 80-jährige Faust hat ihre Kunststudenten und Nachfolger längst dazu angehalten, hinter die Kulissen zu blicken und dort Inspiration zu suchen. Jene jungen Musiker, die von ihr lernen, verstehen schon früh, dass Sport nicht nur aus Zahlen, Statistiken und Rekorden besteht, sondern aus den unsichersten, menschlichsten Momenten. Wie die ausgelassenen Nächte, wenn der Tag zu Ende geht und die Spieler ihre maskierte Rolle ablegen, um in Bars und Apartments ein anderes Leben zu leben – abseits des Schweißes und der Ehrfurcht der prall gefüllten Tribünen.
Es ist nicht nur die Musik, die Middleground bietet, sondern eine Art ethnografischer Blick auf ein schillerndes, amerikanisches Schauspiel. Faust singt weder Lobeshymnen auf den Sport noch verurteilt sie seine Schattenseiten. Vielmehr lässt sie ihre Zuhörer*innen mitfühlen. Vielleicht ein bisschen mitleiden – mit diesen Menschen, die in ihren Stunden der Schwäche, des Stolperns, der Müdigkeit, aber auch der Freude genauso echt sind wie in ihrem siebenundneunzigsten Home Run.
Manchmal, zwischen all den schnellen Noten und rhythmischen Akzenten, scheint man aus dem Stadion hinauszutreten und sieht die Stadt Chicago in der Ferne – eine melancholische Skyline, verstreute Lichter, die den Tag verabschieden und die Nacht willkommen heißen. In diesem Moment wird die Musik zu einer stillen Reflexion über die Vergänglichkeit des Ruhms, die kleinen Leiden des Alltags und den stillen Kampf jedes einzelnen Menschen, der sich auf dem Spielfeld des Lebens behaupten muss.
Nancy Faust und ihre musikalischen Nachfahren zeigen so eine Wahrheit, die mehr erzählt als Millionen Worte: Sport ist ein Stück menschliches Drama, durchwebt von Schmerz, Lachen und der leisen Hoffnung, im nächsten Takt besser zu sein. Und genau darin liegt die Schönheit. Nicht in der Perfektion, sondern im Dazwischen – im Versagen, im Stolpern, im Aufstehen. Die Musik wird zum Spiegel jener Geschichten, die hinter Scheinwerferlicht und Jubelstürmen verborgen bleiben. Wer genau hinhört, wird am Ende vielleicht nicht nur die Geschichte eines Spiels hören, sondern auch die Geschichte eines Lebens.