Am Rande des tibetischen Hochlands, dort, wo die Luft dünn und das Landschaftsbild von schroffen Bergen und endlosen wolkenverhangenen Tälern geprägt ist, erwacht ein Gigant aus Beton und Stahl langsam zum Leben. Ein gigantisches Wasserkraftwerk schlingt sich wie ein gewaltiger Drache durch die steinige Schlucht, geformt nach dem Willen einer aufstrebenden Supermacht, die nicht nur ihre Energieversorgung sichern, sondern auch ihre geopolitischen Karten neu mischen will.
Die Sonne steht hoch über dem Fluss, der sich im Schatten der Kaskadentürme verliert – eine Kette monumentaler Talsperren, die das Wasser des Yarlung Tsangpo, besser bekannt als Brahmaputra, aufstauen und in Strom verwandeln sollen. Tiefer im Süden, jenseits der Berge, verlassen Fischerboote auf den ruhigen Wassern Bangladeschs ihre Dörfer, während Bauern auf den Reisfeldern den Himmel absuchen nach den ersten Tropfen der Monsunregen. Für sie ist der Fluss eine Lebensader, deren Launen und Fülle das Überleben bestimmen. Was ihnen hier in den kargen Höhen des tibetischen Plateaus entgeht, ist jedoch längst in einer Weltpolitik angekommen.
Xiaoli, eine Ingenieurin, die seit Jahren auf der Baustelle arbeitet, blickt vom Rand der Staumauer auf das riesige Becken hinab. “Ich bin stolz auf das, was wir bauen,” sagt sie mit einem Gemisch aus Stolz und Vorsicht in der Stimme. “Dieser Damm wird unzählige Häuser mit Licht versorgen, Fabriken betreiben, Städte wachsen lassen.” Doch ihre Augen, die sonst so klar und entschlossen wirken, verengen sich fürsorglich — ein Bewusstsein dafür, dass hinter dem Fortschritt ein Fluss von Ängsten und Unsicherheiten fließt.
Denn das Kraftwerk, ein technisches Wunderwerk, ist mehr als nur eine Stromquelle. Es ist der erste von mehreren Dämmen, die entlang des Oberlaufs entstehen sollen – ein Eingriff, der in die komplexen Ökosysteme des Hochlands eingreift und auch die politische Landschaft der Regionen unterhalb der tibetischen Grenze durcheinanderwirbelt. Wie ein Griff in das Wasser eines fremden Gartens verändert er das Fließen, den Rhythmus und die Zukunft dieses lebenswichtigen Flusses.
In Delhi und Dhaka, den Hauptstädten der Länder, durch die der Brahmaputra – oder Jamuna, wie er in Bangladesch heißt – fließt, hängt die Nachricht schwer in der Luft. Unter den Bürgern kursieren Berichte über mögliche Überflutungen, Wassermangel in der Trockenzeit und die Auswirkungen auf Fischerei und Landwirtschaft. “Wir haben jahrzehntelang die Quellen unseres Flusses geschützt,” sagt Rashid, ein Fischer am Ufer des Jamuna. “Doch was dort oben im Himalaya gebaut wird, verändert unser Leben, und wir wissen nicht einmal genau, wie.”
Experten warnen, dass die Batterien großer Stauseen den Wasserdruck verändern können, dass Sedimenttransport gestoppt wird und die natürliche Flussdynamik – ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Überschwemmung und Trockenheit – aus dem Konzept gerät. Gleichzeitig kann das Wasserkraftwerk Chinas Rolle als Hüter des mächtigen Flusses stärken und ihr erheblichen Einfluss auf benachbarte Staaten verschaffen. Wasser, eine Ressource, die bislang grenzübergreifend als Bindeglied fungierte, wird damit zum politisch heißen Gut.
Auf der Baustelle ist die Stimmung ambivalent. Arbeiter schuften bei eisiger Kälte, während Drohnen unablässig Tunnelbohrmaschinen überwachen. Der Chefingenieur, Herr Zhang, vermittelt mit seinen klaren Worten eine Mischung aus technischer Zuversicht und diplomatischem Feingefühl. “Unsere Absicht ist nicht, den Fluss zu kontrollieren, sondern ihn zum Wohle aller zu nutzen,” sagt er. Doch die Realität ist komplexer; jedes Zwischenspeicherbecken verändert den natürlichen Ablauf, lässt Wasserstände sinken, oder überschäumen – das spürt man in den Dörfern weit unterhalb der Grenze.
Nicht zuletzt gibt es die stummen Zeugen: die Yaks und Ziegenhirten, die inmitten dieser gewaltigen Bauwerke ihre Wege suchen, das knisternde Geräusch von Betonmischern und Presslufthämmern in den Bergen ein ungewöhnliches und beängstigendes Geräusch. Für sie ist der Fluss mehr als Wasser, er ist Teil ihrer Identität und ihres Lebensrhythmus. Wu Tse, ein Hirte, erzählt leise: “Manchmal frage ich mich, ob die Berge, die uns so lange Schutz geboten haben, unter dem Lärm nicht zerbrechen.”
Der tibetische Hochlandwind trägt Geschichten von Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen. Er flüstert von der modernen Gier nach Energie und Wachstum, aber auch von der fragilen Vernetzung von Natur, Kultur und Politik. Das Wasserkraftprojekt ist Symbol für den Ehrgeiz einer Nation, die nach vorne blickt, aber auch ein Spiegelbild der Konflikte, die dabei entstehen – zwischen Mensch und Natur, Tradition und Fortschritt, Souveränität und gegenseitiger Abhängigkeit.
In der Stille des Sonnenuntergangs, wenn die Kolonnen der Arbeiter ihren Tag beenden und die Staumauer sich rot färbt im letzten Licht, bleibt die Frage im Raum: Wer wird den Fluss wirklich kontrollieren? Und zu welchem Preis?