Die unsichtbaren Fäden der Chemie
Ein kühler Herbstmorgen in München. Die Straßen glitzern nach dem nächtlichen Regen, und das Licht fällt sanft auf die Hochhäuser der Finanzmetropole. Doch hinter diesen Strukturen, in den riesigen Produktionsstätten der chemischen Industrie, wird der Atem der deutschen Wirtschaft immer flacher. Der Verlust an Dynamik ist spürbar und oft nicht sichtbar. Es sind die leisen Warnungen, die durch die Gänge hallen – wie die von Christian Hartel, dem CEO von Wacker Chemie.
„Es gibt keine Wende in Sicht“, sagt Hartel in einem an einen Konferenzraum erinnernden Büro, das unübersehbar nach der Labortechnologie von morgen duftet. Seine Stimme ist ruhig, gleichzeitig stahlt sie eine nachdenkliche Sorge aus, die an diesem Morgen spürbar ist. Der Chef des international agierenden Unternehmens, eines der bedeutendsten Player in der Chemiebranche, weiß um die Zerbrechlichkeit des Systems. „Wenn wir nicht handeln, wird Deutschland sich von einzelnen Industrien verabschieden – und damit auch vom Fundament seiner wirtschaftlichen Stärke.“
Christian Hartel, ein Mann in den besten Jahren, strahlt gleichzeitig eine Gelassenheit und Dringlichkeit aus. Seine grauen Schläfen wirken wie die Spuren von unerlässlichen Herausforderungen. Es sind die Herausforderungen, mit denen die gesamte Branche kämpft: hohe Energiepreise, geopolitische Unsicherheiten und ein Weltmarkt, der von rasanten Veränderungen geprägt ist. „Ich will nicht über die Krise jammern, ich will Lösungen finden“, formuliert er und lehnt sich leicht zurück, doch die Augen bleiben wachsam, fast detektivisch.
Das Herzstück seiner Diagnose? Ein dringender Appell an die Politik und die Gesellschaft: die Notwendigkeit, die Industrie mit visionären Initiativen wiederzubeleben. Es braucht keine großen Worte, sondern mutige Schritte in eine nachhaltige Zukunft. „Wir müssen innovative Chemieprodukte entwickeln, die nicht nur nachhaltig sind, sondern auch in den Schlüsseltechnologien der Zukunft Verwendung finden“, erklärt er, während er durch die Glaswand auf das pulsierende Leben der Stadt blickt.
Vor dieser Kulisse erhebt sich die Frage: Was macht eine Industrienation aus? Welche Rolle spielen Unternehmen wie Wacker Chemie? Hartels Überlegungen gehen über die reine Unternehmensführung hinaus. Er spricht von einer kaskadierenden Verantwortung, von der Pflicht, auf die Bedürfnisse einer zunehmend modernen Gesellschaft einzugehen. Die Chemieindustrie steht im Zentrum zahlreicher Entwicklungen – von Elektrofahrzeugen bis zu grünen Technologien. Doch ohne Innovation droht selbst das kraftvolle Herz dieser Branche stillzustehen.
Hartel interessiert sich nicht nur für Zahlen, Statistiken und Marktanalysen. Er hört den Puls der Menschen, die in den Hallen des Unternehmens arbeiten, die Maschinen bedienen, die Formeln ausbalancieren und neue Produkte testen. „Jeder hier bringt so viel Leidenschaft ein. Diese Menschen sind die wahren Innovatoren“, erzählt er und sein Blick wird weicher. Für Hartel sind sie die Stützen des Systems. Eine Fluktuation von Talenten oder gar eine Abwanderung ins Ausland könnte fatale Folgen haben.
In den Klausuren von Wacker wird intensiv darüber nachgedacht, wie man die beständigen Herausforderungen im internationalen Wettbewerb bewältigen kann. „Diese industriepolitischen Debatten sollten nicht unter dem Teppich gekehrt werden. Das ist der Moment, um klar zu sagen: Wir müssen mutig sein“, betont Hartel und nickt, als würde die Notwendigkeit einer Veränderung beim Aussprechen dessen bereits physisch greifbar werden.
Hat die deutsche Chemieindustrie genug auf diesem Terrain bewiesen? Ist der Innovationstrieb stark genug, um mit den Herausforderungen Schritt zu halten? Vor der Kulisse von riesigen chemischen Anlagen, die schematische Struktur und organische Verbindungen in die Realität umsetzen, wird die Fragestellung zum essentiellen Antrieb für Wacker und seine Konkurrenz.
Noch immer scheinen sich die Wellen der Veränderung in der Branche nur langsam zu formieren – die Wasseroberfläche bleibt längst nicht so glatt, wie es notwendig wäre. Eine neue Welle von Chemieunternehmen könnte entstehen, doch dafür müssen Innovation und Unternehmergeist zurückkehren. Die Innovationsgeschwindigkeit der Branche muss auf ein neues Niveau gehoben werden, um langfristig die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Schaut man jedoch hinaus auf den internationalen Markt, sieht man auch, dass andere Länder aufholen. In Asien werden Milliarden in die Forschung investiert, und die Unternehmen dort sind hungrig nach Erfolgen. „Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Spiel nicht nur national ist“, warnt Hartel. Das strahlende Licht des Lebens in diesen Ländern wirft lange Schatten auf den deutschen Stand.
„Die größte Gefahr liegt in der Untätigkeit“, sagt er abschließend. Und plötzlich wird die Bürorunde von einem Klang unterbrochen – das Klopfen von Computer-Tastaturen, das Summen der Maschinen aus der Ferne, der Puls der Produkte, die dezentral Geschichten erzählen, still und doch eindringlich.
In dieser Zeit des Wandels, inmitten von Krisen und nicht zuletzt auch von Herausforderungen, bleibt im Angesicht der Innovationsdrang unbemerkt das Fehlen von Perspektiven, Visionen und dem entscheidenden Mut zur Veränderung. Christian Hartel weiß, dass im Schatten der Maschinen und amid der aufgebrachten Diskussionen seine Industrie mehr denn je die Frische von neuen Ideen und den Mut zur praktischen Umsetzung benötigt. Und während der Tag an diesem kühlen Herbstmorgen weiterzieht, bleibt der Gedanke unweigerlich im Raum: Wie stark sind die unsichtbaren Fäden, die die deutsche Industrie zusammenhalten?