Die Coen-Brüder: Meister der perfekten Imperfektion
Manchmal, wenn der Alltag nach Gewissheit schreit und das Leben sich wie ein aufgegabeltes Mosaik entpuppt, greife ich zu einer ganz eigenen Konstante: den Filmen der Coen-Brüder. Joel und Ethan Coen, die amerikanischen Regie-Zwillinge, sind für mich und viele cinephile Gefährten keine bloßen Filmemacher. Sie sind vielmehr Architekten einer ganz eigenen Welt – einer Welt, die gleichzeitig messerscharf konstruiert und doch voller überraschender Zufälligkeiten pulsiert, als hätte das Chaos in ihr eine heimlich regierende Hand gefunden.
Es gibt Filmnerds – und dann gibt es die Coen-Fans. Und während für Außenstehende Filme oft wie homogene Unterhaltung erscheinen, sind die Werke der Brüder ein Kaleidoskop aus präziser Kameraführung, akribischem Sounddesign und einem Soundtrack, der wie ein roter Faden durch jede Einstellung zieht. Man fühlt sich fast unfair behandelt, als Zuschauer, weil hier auf jeder Ebene die Messlatte so hoch liegt, dass man mitunter den Atem anhält. In der Welt der Coens tanzen Regie, Drehbuch, Schnitt und Schauspiel zusammen, wie es sonst nur ganz selten der Fall ist – oder sagen wir besser: fast nie.
Nehmen wir nur die Besetzung und ihre fast magische Eigenart: Frances McDormand, John Goodman, Holly Hunter, Oscar Isaac, Hailee Steinfeld – Schauspieler, die in anderen Produktionen schon herausragend waren, doch gerade in den Coen-Werken eine ganz neue Dimension finden. Da ist keine Eintagsfliege, kein blasser Abglanz vergangener Filmsaison, sondern eine wahre Verschmelzung von Talent und Vision. Man könnte fast meinen, die Brüder taugten als eine Art mystische Katalysatoren, die das Potential verborgen in ihren Darstellern zum Blühen bringen. Es ist kein Zufall, dass man Jon Polito oder Sir Roger Deakins ohne Coen-Bezug kaum so sehr lieben könnte, wie es heute der Fall ist – als wären sie in einem Paralleluniversum ein- und ausgeheizt, nur um sich auf diese Weise gegenseitig zu entfesseln.
Das Geheimnis liegt irgendwo zwischen Geschmack und Symbiose, eine Antwort im „Chicken-or-egg“-Dilemma, das nie wirklich zu lösen ist. Wurde der Charakter durch den Darsteller geboren, oder war der Darsteller nur ein Vehikel für die filmische Vision der Brüder? Sinnbildlich gesprochen, ein Kinokosmos, der sich von den 1980ern bis heute erstreckt, eine Reise durch die amerikanische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, die zugleich in der Geschichte des Films selbst verankert ist. Inspiration trifft Postmoderne, Historizität trifft surreale Farce – und ganz in diesem Spannungsfeld entstehen Welten, die so lebendig sind, als würden sie sich jedem Betrachter ständig neu offenbaren.
Was im raschen, manischen Durchgang durch die kaum überschaubare Filmografie der Coens besonders auffällt, sind die wiederkehrenden Motive und Figuren. Ein Top Hat, der sich vom Zylinder zum Hula Hoop und schließlich zum Radkappen-Minispiel verwandelt. Verse wie Echoes, die sich in Gestalten wie Herbert I. McDonnough, Ulysses Everett McGill oder Llewyn Davis manifestieren. Und mittendrin steht der archetypische Tornado, ein zerstörerisches, apokalyptisches Symbol, das immer wieder die schwindelerregende Umgebung um diese Figuren herum zerreißt und neu gestaltet. Ein „Mentaculus“ in Reinkultur, ein Labyrinth aus Zufall, Bedeutung und seltsamer Vorherbestimmung.
Die Krux an der Sache: Die Coen-Filme in eine Rangordnung zu pressen, gleicht dem Versuch, Perfektion in Reihenfolge zu bringen – eine Absurdität, die sich kaum entschlüsseln lässt. Jeder Film ist gleichzeitig ein eigenständiges Kunstwerk, ein Witz, eine Tragödie, ein Experiment in Stil und Narration. Doch wenn man sich denn darauf einlässt, gibt es diese Momente, in denen der Film einen – trotz aller zeitlichen und stilistischen Brüche – emotional am meisten mitnimmt. Vielleicht liegt die Kunst darin, sich einfach treiben zu lassen, das Kino zu fühlen, statt es zu bewerten.
In meinen wiederholten Sichtungen, teils gezwungen, teils sehnsüchtig begrüßt, entstanden diese Listen, diese Sekundenbruchteile des Glücks: welche Filme berühren, welche einem Lebensabschnitt zugeordnet werden können oder wie flüchtige Bekanntschaften in einer alten Bar, die man nie wieder besucht, dennoch Spuren hinterlassen. Für manche bleibt der Blick subjektiv, ein Spiel mit Emotionen, mit Haarspaltereien, die das Gesamtwerk eh nicht mindern, sondern eben erst vollends ausmachen. Es ist ein intimes Verhältnis, fast melancholisch, in einem Universum, das ebenso unermesslich ist wie kaltherzig und doch voller menschlicher Skurrilitäten.
Vielleicht ist das das Wertvollste an den Coens: dass sie mit jedem Film neue Fenster öffnen, durch die man auf eine andere Weise hinausschauen kann – in eine Welt, die man mal zu kennen glaubte, doch die sich immer wieder neu erfindet. Sie sind Meister des Erzählens, Meister der Tonalität, der Räume und der Figuren, von denen man glaubt, sie hätten einen ganz eigenen Luftzug, ein eigenes Gewicht in diesem dichten Geflecht aus Papier, Licht und Bewegung.
Und so bleibt am Ende die Ahnung, dass all das – all diese Detailversessenheit, diese scheinbare Kontrolle über Chaos und Schönheit – vielleicht nur ein weiterer Weg ist, die große Frage zu umkreisen. Was macht Zeit aus, was Bedeutung, was Identität in einer Welt, die sich ständig selbst im Spiegel betrachtet und doch so gut wie nie versteht? Die Coen-Brüder liefern keine Antworten, doch ihre Filme bieten den Raum dafür, eben, innezuhalten und zuzusehen, wie sich Bilder drehen, Figuren stolpern und das Leben auch im Kino manchmal unentwirrbar, aber auf seine ganz eigene Weise perfekt scheitert.