Im Halbschatten des Medizintheaters
Ein regennasser Oktobertag verdichtet sich in Berlins Altbauwohnungen zu einem beharrlichen Tropfen; draußen an der Straßenecke navigiert eine Frau ihre Hände energisch durch ein Paar liebevoll gestrickter Handschuhe. Nicht, weil es nötig wäre, sondern weil jeder Handgriff zum kleinen Triumph wird, wenn die Finger sich taub anfühlen, trocken und doch irgendwie schmerzhaft. „Man muss es aushalten, dass es nie wirklich normal wird,“ sagt sie mit einem lakonischen Lächeln, das mehr Traurigkeit als Resignation trägt. Ihr Name ist Clara, Mitte dreißig, und wie viele Menschen mit Sjögren-Syndrom weiß sie, dass ihre Krankheit in der Medizinwelt bislang auf einer Art Wartebank sitzt – eine Wartebank, die sie an einem Ort voller Nebel und Unsicherheit platziert hat.
Doch jetzt bricht ein zuerst zaghaftes, dann umso eindrücklicheres Flüstern durch die stillen Flure der Forschungslabore: Ein neuer Wirkstoff könnte das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels sein. Ein Pharmazieriese aus den USA hat angekündigt, ein Medikament zu entwickeln, das gezielt gegen Sjögren vorgeht – und nicht nur die blassen Symptome lindert, sondern die Krankheit an der Wurzel packen könnte. Für Leute wie Clara nicht bloß eine Hoffnung, sondern fast eine kleine Revolution.
Was ist Sjögren-Syndrom? Es ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem wie ein überambitionierter Wachhund die Tränen- und Speicheldrüsen angreift, was zu einer trockenen, oft brennenden Mund- und Augenhöhle führt. Und weil die Krankheit das komplexe System der Aromasie mit einem stillen Feuer quält, entzieht sie ihren Betroffenen die scheinbar alltäglichsten Annehmlichkeiten: das schmeckende Frühstücksei, das Tränen-losen Lachen, die feuchten Augen beim letzten traurigen Film.
Seit Jahrzehnten war Sjögren für Ärztinnen und Forscherinnen eine Randerscheinung, wil keiner so recht wusste, wie man das Immunsystem hier bremst, ohne es komplett zu lähmen. Die Medikamente, die es gab, malen das Bild einer Baustelle: Pflaster auf Wunden, die immer wieder aufreißen. Und das war es dann. Ein Zuviel an Kortison, das mehr Nebenwirkungen brachte als Heilung, und moderne Biologika, die sich bei anderen Autoimmunerkrankungen liebevoll als Hoffnungsträger verschrieben haben, zeigten bei Sjögren oft nur begrenzte Wirkung.
Nun steht alles auf einem neuen Blatt Papier. Die Firma verspricht sich – und vielen Patient*innen weltweit – einen Präzisionsschuss. Ein Medikament, das nicht nur Symptombehandlung ist, sondern gezielt an die Moleküle geht, die in diesem Wirrwarr aus Immunreaktionen ein Feuer entfachen. Ob das der Heilige Gral für Sjögren ist? „Vielleicht“, sagt Clara, und in ihrer Stimme klingt ein Hauch Skepsis mit, der nach all den Jahren des Wartens unvermeidlich ist.
In der Welt der Pharmaindustrie geht es stets auch um mehr als nur Wissenschaft: Milliardeninvestitionen, regulatorisches Ringen, Patentrechte, Marktstrategien. Und mittendrin die Stimmen derer, deren Tage von trockener Müdigkeit und dem Kampf gegen Vergesslichkeit geprägt sind. Die vorfreudige Erleichterung trifft auf nüchterne Realpolitik. Denn selbst wenn die Zulassung eines solchen Medikaments in greifbare Nähe rückt, bleibt offen, wie schnell es die Praxen, die Krankenversicherungen, die Apotheken erreichen wird – und ob es wirklich der Versprechen gerecht werden kann.
Kleine Städte in Schweden oder Kanada, das Innere mancher Anwaltskanzleien in den USA, und vor allem zahllose Wohnzimmer, in denen Menschen wie Clara mit dem stetigen Widerstreit zwischen Hoffnung und Alltag hadern – sie alle sitzen auf einer ungeduldigen Warteliste. Und so heißt die Frage nicht nur, ob das Medikament hilft, sondern ob es auch dort ankommt, wo gebraucht.
Der Laboralltag wird nicht dadurch leichter, dass große Konzerne jetzt in die Bresche springen, aber er wird lebendiger, bunter, fast schon menschlicher. Forscher tauschen ihre Schreibtischlampen gegen Gespräche mit Patient*innen, die Zellen unter dem Mikroskop bekommen ein Gesicht. In all dieser Bewegung liegt auch ein tieferer Wandel verborgen: Die Medizin beginnt, den Menschen im Ganzen zu sehen und nicht nur ein Rätsel aus Labordaten.
Wenn Clara an diesem Abend ihr Glas Wasser hebt, denkt sie nicht mehr nur an die trockenen Schleimhäute und die müden Hände. Sie denkt an eine Tür, die langsam aufgeht, an eine Möglichkeit, mit der sie eines Tages nicht mehr nur gegen ihre Krankheit kämpft, sondern vielleicht mit ihr leben kann – ein bisschen leichter, ein bisschen leiser.
Und wo einst nur eine Stille herrschte, die der Krankheit gehorchte, klingt nun etwas Neues an: ein leiser Klang der Zuversicht, der trotz aller Unwägbarkeiten nicht so leicht zu überhören ist.