In Tel Aviv ist der Nachthimmel klar, doch in den Gesichtern der Menschen spiegelt sich eine andere Dunkelheit. Eine Meldung zieht durch die Straßen, die auf eine seltsame Weise Hoffnung und Verletzlichkeit zugleich atmet: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigt Verhandlungen mit Hamas an. Es ist mehr als eine politische Nachricht. Es ist ein Ereignis, das tiefe Risse in die kollektive Seele einer Nation schlägt, die seit Wochen von einem brutalen Konflikt erschüttert wird.
Die Hintergründe sind bekannt: Nach der verheerenden Attacke der Hamas, die Israel in Alarmbereitschaft versetzte und zahlreiche Geiseln nahm, stehen viele Israelis nicht mehr an der Seite derer, die nur auf militärische Vergeltung setzen. Stattdessen steigt die Zahl derjenigen, die eine politische Lösung suchen, eine Lösung, die die Freilassung der Geiseln ermöglicht und das unablässige Leid beendet – auch wenn das bedeutet, mit einem langjährigen Feind zu verhandeln.
Auf den Straßen Jerusalems herrscht eine fast greifbare Spannung. In einem kleinen Café, kaum fünf Gehminuten vom historischen Zentrum entfernt, sitzen zwei junge Männer bei schwarzem Kaffee und rauchen. „Ich bin es leid, dass wir jedes Mal in den Krieg ziehen und nichts ändert sich“, sagt Amir, der Sonntagsjobber. „Die Geiseln sind Menschen, nicht Schachfiguren. Vielleicht brauchen wir eine andere Art von Mut.“
Mut – das Wort fliegt durch diesen Herbst, der sich so kalt anfühlt. Es ist der Mut zuzuhören, den Gegner nicht länger als Feind zu entmenschlichen und eine Perspektive auf etwas anderes als Bomben und Waffenwurf zu eröffnen. Es ist ein mutiges Aufbrechen von Gewissheiten, die jahrzehntelang die politische Landschaft geprägt haben.
In Sderot, der Stadt, die oft unmittelbar hinter feindlichen Raketen steht, sieht die Haltung anders aus. Hier, wo der Krieg Alltag ist, sitzt Sarah in einer kleinen Bibliothek, durch deren Fenster sich immer noch Spuren vergangener Einschläge zeigen. „Verhandeln? Mit Hamas?“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Doch dann fügt sie hinzu: „Aber ich will auch meine Kinder wieder in die Arme schließen. Vielleicht ist das der einzige Weg.“
Man muss ins Land hineinhorchen, um diese Widersprüche zu begreifen: die Spannung zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Verlangen nach Frieden, zwischen Rache und Versöhnung. Ein älterer Mann, der in Tel Aviv nahe des Kikar Rabin spazieren geht, spricht selten, doch auf Nachfrage sagt er: „Wir sind ein Volk aus Geschichten des Überlebens und des Kampfes. Aber manchmal fragt man sich, ob wir nicht all das nur wiederholen und dabei selbst verloren gehen.“
Im Hintergrund dieser Gespräche steht die Frage, wer überhaupt für Verhandlungen infrage kommt, wenn das Misstrauen so tief sitzt. Was bedeutet es politisch und menschlich, mit einer Organisation zu verhandeln, die so brutal zuschlägt? Und wie verändern solche Gespräche das Bild, das Israelis von sich selbst haben? Von der Sicherheit, der Unverletzlichkeit ihres Landes und ihrer Identität?
Die Straßen Israels sind eine Bühne für diese Unruhe, auf der Menschen jeden Alters ihre Ängste, Hoffnungen und Zweifel zeigen. Die Entscheidung der Regierung, mit der Hamas zu verhandeln, ist kein bloßes politisches Manöver. Es verändert das soziale Klima, erzeugt Verunsicherung, aber auch eine leise Sehnsucht nach einem Ende der Spirale der Gewalt.
Überall sprechen Menschen von den Geiseln. „Sie sind nicht nur Symbolfiguren“, sagt ein Arzt in Haifa, der um die seelischen Narben seiner Patienten weiß. „Sie sind Teil von Familien, von Gesellschaften. Wenn wir sie nicht zurückbekommen, wächst ein Trauma, das wir alle spüren.“
Diese Gespräche gegen den Lärm der Bombenlinien kosteten Mut. Kein einfaches In-den-Kopf-Bekommen der Verhandlungsstrategie, sondern ein Aufeinanderzusehen im schwierigen Terrain der Verzweiflung. Ein Ringen mit der Frage, wie viel man verlieren würde, wenn man nachgeben würde, und wie viel man gewinnen könnte, wenn man die Chance auf Wandel ergreift.
Die Ankündigung Netanjahus ist mehr als eine politische Botschaft. Sie wirft einen Schatten auf die Identität einer Gesellschaft im Krieg – eine Gesellschaft, die sich im Spiegel der Gewalt erkennt und neu erfinden muss, wie sie Frieden begreifen kann, ohne ihre eigene Verletzlichkeit aufzugeben.
„Es wird kein einfacher Weg“, sagt Rivka, eine Lehrerin in Tel Aviv, „und ich bin mir nicht sicher, ob Verhandlungen alleine reichen. Aber wir müssen es zumindest versuchen, weil wir nichts mehr zu verlieren haben, wenn der Krieg nie endet.“
So webt sich die Geschichte weiter, in den Wohnungen und Cafés, in den Schulen und Krankenhäusern, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen dem Drang nach Vergeltung und dem Wunsch nach Freiheit. Zwischen dem Heute und dem Morgen liegt ein zartes, zerbrechliches Band – und niemand weiß, wie es reißen oder halten wird.