In den Straßen von Marseille, wo die Sonne hart auf die Fassaden fällt und das Stimmengewirr in arabischer, französischer und jiddischer Sprache durch die Gassen hallt, liegen die Spannungen oft spürbar unter der Oberfläche. Es sind kleine Momente – ein argwöhnischer Blick, ein hastig verhülltes Gebet – die ein tieferes Unbehagen sichtbar machen, das jenseits der alltäglichen Routine pulsiert. Seit Wochen, ja Monaten, hat sich etwas verändert. Öffentliche Diskussionen über Israel, die im digitalen Zeitalter eine neue Dimension erreicht haben, wirken hier wie Zündsätze. Worte, die nicht einfach verhallen, sondern Brände schüren, die schon lange schlummern.
Die Radikalisierung, die in einigen Vororten französischer Großstädte spürbar ist, hat eine giftige Symbiose mit politischen Statements gefunden, die nichts an der Komplexität des Nahostkonflikts vorbeigehen, sondern die Debatten zuspitzen und Lager verhärten. Seitdem prominente Stimmen – seien es Politiker, Aktivisten oder Intellektuelle – die Politik Israels scharf verurteilen, nimmt das aggressive Klima gegenüber jüdischen Gemeinden spürbar zu. Exemplarisch dafür steht eine Szene aus der Pariser Vorstadt Sarcelles: Hier, wo rund ein Drittel der Bevölkerung jüdischen Glaubens ist, war im vergangenen Monat eine Synagoge Ziel eines Brandanschlags, der glücklicherweise nicht mehr Schaden anrichtete als Rußspuren an der Fassade.
„Es ist nicht nur das, was gesagt wird. Es ist das, was ganz still mitschwingt“, beschreibt Miriam Blum, eine der wenigen jüdischen Kindergärtnerinnen in Sarcelles, ihre Angst. „Manchmal fühlt man sich wie eine Geisel von Worten, die man nicht kontrollieren kann.“ Die öffentliche Kritik an Israel, so argumentieren manche, könnte an manchen Stellen ein Ventil bilden für Frustrationen, die aus anderen Herausforderungen resultieren: sozioökonomische Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit, Globalisierungsverlierertum. Doch das Ventil wird oft zum Katalysator für neuerliche Gewalt, wenn politische Kritik sich mit antisemitischer Rhetorik vermengt.
In der Redaktion der l’Express erzählt der Korrespondent für Innenpolitik, Jean-Luc Moreau, von den zunehmenden Berichten über Drohungen und Übergriffe gegen jüdische Mitbürger, die längst nicht mehr nur in den Medien präsent sind, sondern im Alltag vieler spürbar sind. „Was wir hier beobachten, ist kein Zufall“, sagt Moreau, „sondern eine gefährliche Kette, in der öffentliche Verurteilungen auf Twitter und Facebook, mitunter schrille politische Reden, zu einer Ermutigung für Extremisten werden.“ Diese Dynamik entzieht sich einfachen Erklärungen: Die öffentliche Debatte über Israel, mit all ihren Zuspitzungen, wird genutzt von Bewegungen und Gruppierungen, die von der moralischen Entrüstung profitieren und diese in Hass verwandeln.
Für Samuel Cohen, Rabbiner einer Gemeinde in Lyon, ist die Lage deshalb nicht nur eine politische, sondern zutiefst persönliche. „Unsere Eltern haben Schreckliches erlebt. Und heute scheint es, als ob wir dieselbe Angst wieder spüren“, sagt er mit gedämpfter Stimme. In seinem Büro stapeln sich Briefe von erschrockenen Gemeindemitgliedern, die über Anfeindungen berichten, von Schülern, die sich kaum noch trauen, ihren Davidstern öffentlich zu tragen. Manches erinnert an die düsteren Kapiteln der europäischen Geschichte, doch es ist vor allem das Jetzt, das Cohen Sorgen bereitet. „Wenn Stimmen in der Politik, die ohnehin polarisieren, Israel vorführen, müssen wir auch verstehen, welchen Preis das für uns zahlt – hier in Frankreich, mitten in unseren Straßen.“
Andrea Haddad, Sozialarbeiterin in einer von Migranten geprägten Banlieue von Lille, sieht einen neuen Graben entstehen. „Es gibt mittlerweile eine klare Entsolidarisierung“, erklärt sie, „zwischen Gemeinschaften, die früher mehr miteinander zu tun hatten.“ Öffentliche Auftritte, in denen Politiker und Aktivisten Israel in harschen Worten kritisieren, finden hier häufig Zustimmung – doch die Differenzierung zwischen legitimer Kritik und antisemitischer Hetze verschwimmt. „Manchmal verlassen diese Debatten den Raum der Politik und werden zum persönlichen Kampf, zur Rechtfertigung für Ressentiments, die vorher verborgen waren.“
Auf der anderen Seite stehen jüdische Jugendliche, von denen viele zwischen ihrer französischen Identität und ihrer Herkunft aus Nahost-Kontexten zerrieben werden. Lila, 17 Jahre, erzählt von den täglichen Anfeindungen in der Schule. „Wenn jemand sagt ‚Israeli Terrorist‘, dann fühle ich mich angegriffen, auch wenn es nicht mal gegen mich direkt gemeint ist“, sagt sie. „Es macht etwas mit dir, wenn die Diskussionen nur noch in Extremen geführt werden.“ Lila wünscht sich eine Debatte, die nicht in Polemik erstickt, sondern Raum für Geschichte und Menschlichkeit lässt.
Der Straßenkünstler Malik, dessen Wandbilder im multikulturellen Viertel Belleville in Paris seit Jahren soziale Fragen thematisieren, versucht zu verstehen, wie Worte Gewalt verbreiten können. „Kunst ist Sprache für das Unsagbare“, sagt er. „Aber wenn Worte zu Geschossen werden, verliert die Kunst ihren Schutz.“ Seine neueste Arbeit zeigt eine Friedenstaube, zerfetzt und mit Graffiti bedeckt, umgeben von Stacheldraht und ignoranten Blicken. Ein Symbol nicht nur für eine ferne Konfliktzone, sondern auch für die Verletzlichkeit einer Gesellschaft im eigenen Land.
So stehen Frankreich und seine jüdische Bevölkerung an einem komplexen Scheideweg, an dem eröffnete Diskussionen über Israel weit über diplomatische Dossiers hinausreichen. Die Stimmen, die öffentliche Kritik am israelischen Staat zum Ausdruck bringen, tragen eine Verantwortung – denn sie beeinflussen, wie sich Menschen wahrnehmen, wie Vorurteile sich verfestigen und wie sich eine Gesellschaft selbst versteht. In einem Land mit einer der größten jüdischen Gemeinschaften Europas, das sich gleichzeitig acht Jahrzehnte nach den dunkelsten Stunden europäischer Geschichte mit seinem Umgang mit Differenz und Pluralität ringt, sind Worte die Macht, die Leben verändern kann – im Guten wie im Schlechten.