In den stillen Morgenstunden Jerusalems, wenn der Duft von frisch gebackenem Challah-Brot durch die engen Gassen zieht und vereinzelte Stimmen von Talmudstunden zu hören sind, zeichnet sich ein unsichtbares Dilemma ab. Aus den Häusern der ultraorthodoxen Gemeinden treten junge Männer, deren Welt von jahrhundertealten Texten und rigiden Traditionen geprägt ist, hinaus in eine Gesellschaft, die von einer anderen Realität bestimmt wird – einer Realität, in der Pflicht und Loyalität dem Staat gegenüber zum Alltag gehören. Doch für sie ist das eine Welt, in der sie sich nur schwer verorten können, ja kaum wollen.
Die ultraorthodoxe Gemeinschaft, oft als Haredim bezeichnet, lebt in einer sorgfältig abgeschirmten Sphäre. Ihre Tage sind durchdrungen von Tora-Studium, religiöser Hingabe und einem strikten Regelwerk, das den Kontakt zur säkularen Welt limitiert. Während die Mehrheitsgesellschaft in Israel keinen Zweifel daran lässt, dass der Militärdienst eine universelle Pflicht ist – eine Initiationsritual der Staatsbürgerlichkeit –, sehen viele junge Haredim darin eine Unterbrechung ihrer geistlichen Berufung und eine Gefährdung ihrer Werte.
Der israelische Staat hat seit seiner Gründung versucht, die ultraorthodoxen Männer in die Armee zu integrieren. Das Bild der Wehrpflicht ist tief verwurzelt im nationalen Selbstverständnis: Jeder 18-Jährige, ob Jude oder nicht, soll seinem Land dienen. Doch für Tausende Haredim bedeutet der Dienst nicht nur einen kulturellen Bruch – es ist für sie eine existentielle Konfrontation. Dienst an der Waffe, Kameradschaft mit säkularen Israelis und auch nur die Entfernung von der vertrauten Welt des Jeschiwa-Studiums werden als Bedrohung empfunden.
Shlomo, ein junger Mann aus Jerusalem, der in einer dieser Gemeinden aufwuchs, beschreibt seine Entscheidung so: „Für mich war es nicht einfach, ein Soldat zu sein. Meine Freunde studieren in der Jeschiwa, meine Familie erwartet das von mir. Aber ich wollte auch Teil von etwas Größerem sein, der Gesellschaft zeigen, dass wir da sind.“ Seine Zeit in der Armee war kein Spaziergang. Er musste lernen, die Sprache der Welt außerhalb seiner Gemeinschaft zu sprechen – eine Sprache, die von Skepsis, Misstrauen und auch Vorurteilen geprägt war. Es war eine Zeit der inneren Zerrissenheit zwischen Pflicht und Glauben, zwischen Respekt vor den Eltern und dem Willen zur Selbstverwirklichung.
Das Verhältnis der Haredim zum Militär ist deshalb keine einfache Geschichte von Widerstand oder Gehorsam, sondern eine von vielen Grautönen. Die jüngste Gesetzesdebatte in der Knesset über die Erweiterung der Wehrpflicht auf die ultraorthodoxen Männer hat diese Spannungen wieder einmal schlaglichtartig sichtbar gemacht. Auf der einen Seite stehen Politiker und säkulare Israelis, die Verständnislosigkeit gegenüber dem Status quo zeigen, weil sie den Staat als integrative Nation sehen. Auf der anderen Seite verteidigen Haredim ihre Lebensweise, die ihnen als authentischer und existentiell notwendig erscheint.
Doch in den letzten Jahren zeigen sich Risse in dieser Uniformität. Immer mehr junge Haredim entscheiden sich ganz bewusst dafür, die Armee zu betreten – oft nicht aus Rebellion, sondern aus dem Wunsch heraus mitzuwirken, Brücken zu bauen und die eigene Identität neu zu verhandeln. Diese „Nahal Haredi“-Einheiten, speziell für ultraorthodoxe Soldaten, bieten eine Art Zwischenwelt, in der religiöse Regeln bis zu einem gewissen Grad eingehalten werden, zugleich aber eine Integration möglich ist.
Trotzdem bleibt die Frage: Wie integriert man eine Welt, die sich vor Integration schützt? Die ultraorthodoxe Gesellschaft betrachtet das Militär nicht nur als Institution, sondern als eine weltliche Herausforderung an ihre Werte – an Reinheit, Tradition und den Platz, den der religiöse Mensch in der modernen Gesellschaft einnehmen darf. Es ist ein Balanceakt zwischen Isolation und Teilnahme, zwischen religiösem Eifer und staatsbürgerlicher Verantwortung.
Beim Spaziergang durch Mea Shearim, das Herz der ultraorthodoxen Welt in Jerusalem, wird deutlich, wie sehr sich diese Parallelwelten gegenüberstehen. Die steilen Gassen sind von Männern mit breiten schwarzen Hüten und langen Bärten bevölkert, ihre Stimmen mischen sich mit dem Klang von Gebeten und der strengen Ordnung ihres Alltags. Nur wenige Straßen entfernt laufen junge Israelis in militärischen Uniformen mit schnellen, entschlossenen Schritten. Zwei Welten, die nebeneinander existieren, sich berühren, aber selten miteinander verschmelzen.
Und so bleibt die Wehrpflicht für viele ultraorthodoxe Israelis ein Spiegelbild ihrer Identität: Sie wirft Fragen auf, die in der Symbolik weit über Israel hinausgehen. Wie viel Gemeinschaft verlangt der Staat? Wie viel Anpassung kann eine Minderheit leisten, ohne sich selbst zu verlieren? Und vielleicht am schwierigsten: Wo verläuft die Grenze zwischen Pflicht und persönlichen Überzeugungen, zwischen dem Drang zur Tradition und dem Ruf der Moderne?
Dieses Ringen ist weit mehr als eine politische Frage. Es ist das stille, manchmal schmerzliche Ringen einer Gemeinschaft mit sich selbst und der Gesellschaft, von der sie umgeben ist – eine Geschichte von Männern und Frauen, die versuchen, den schmalen Grat zwischen Glauben und Pflicht zu meistern, mit all seiner Widersprüchlichkeit und seinem mühevollen Zauber.