Fircrest, Washington: Wo 25 Meilen pro Stunde zum Mantra werden
Es ist ein freundlicher Ort, dieser Vorort von Tacoma, der auf den ersten Blick so wirkt, als sei er von der Zeit ein wenig übersehen worden. Gepflasterte Straßen, akkurat geschnittene Hecken und Einfamilienhäuser, die sich aneinanderreihen wie gut geordnete Noten eines ruhigen Sonntags. Wenn man durch Fircrest fährt, möchte man fast den Motor abstellen und nur das leise Zirpen der Grillen hören. Doch das Geräusch des eigenen Autos wird hier zur Herausforderung, denn eines steht fest: Die Geschwindigkeit ist streng limitiert, auf genau 25 Meilen pro Stunde – umgerechnet knappe 40 Kilometer. Und diese Zahl ist nicht nur eine Empfehlung, sondern ein uneingeschränktes Gesetz.
Als Neuankömmling oder Passant fragt man sich bald, warum in einer Stadt, die keine hektische Ballungszentren-Luft atmet, der Verkehrsfluss derart rigoros gebremst wird. Die Schilder stehen an jeder Ecke, in regelmäßigen Abständen verkünden rot-weiße Plaketten, dass „25 MPH“ nicht verhandelbar ist, dass man lieber einen Gang zurückschalten sollte, selbst wenn das Ziel noch weit entfernt liegt. Ganze 3.700 Einträge dieser Tempolimiten gibt es auf einer einzigen Routemap – ein eindrucksvolles Dokument der nicht nachlassenden Aufmerksamkeit auf dem Asphalt.
Als ich zum ersten Mal durch Fircrest tuckerte, war ich genervt. Eine vermeintlich neue Zeitverschwendung. Wo bin ich gelandet, dachte ich, wo jede Straße sich anfühlt wie eine Einladung zur Langsamkeit? Auf der einen Seite flankierten romantische Alleen das Straßenbild, auf der anderen sorgten Verkehrsinseln und regelrechte Mini-Kreisel dafür, dass das Gas kaum Freude bringen konnte. Und dennoch: Ein langsames Voranschreiten erlaubt Blicke, die sonst dem Vorbeirauschen zum Opfer fallen.
Ich beobachtete eine ältere Dame, die gemächlich ihre Einkaufstaschen trug, neben ihr ein Junge, der forschen Schrittes seinen Schulranzen schulterte. Die Ruhe dieses Ortes schien für ihre alltäglichen Wege mitentscheidend zu sein. „Hier zählt das Zwischenmenschliche mehr als die Effizienz“, erklärte mir eine Einheimische, „wir möchten, dass die Kinder sicher zur Schule kommen, die Nachbarn einander noch sehen und dass niemand den Fuß vom Gas nimmt – um dann durchzudrehen.“ Es ist eine stille Melodie, die diese Tempobeschränkung singt, und wer sich ihr widersetzt, hört womöglich eine andere Stimme – die des nervösen Zeitgeists, der schnelle Autos und schnelleres Vorankommen verlangt.
Fircrest erscheint damit fast als eine Oase der Langsamkeit in einer Welt, die versucht, jeden Augenblick abzuspecken. Mag sein, dass der liebevoll durchorganisierte Tempomix manchmal an die Geduld eines Straßenmalers erinnert, der trotz nahender Dunkelheit in winzigen, gut angestrichenen Details seine Arbeit verrichtet. Doch diese Mühe manifestiert sich in Zonen, in denen Zeit nicht als Feind, sondern als Verbündeter betrachtet wird – als kostbares Gut, das nicht einfach durch Raserei verfliegt, sondern sich in Gemeinschaft und Achtsamkeit verwandelt.
Die Polizei, so höre ich, nimmt Temposünder nicht auf die leichte Schulter. Hier ist niemand König der Straße, weil alle König der Langsamkeit sind. Ausufernde Bußgelder sind keine Seltenheit, und man spürt die dringliche Botschaft: Das Risiko der Schnelligkeit wird teuer und unpopulär gemacht. Fircrest schützt sich vor dem Übermut auf vier Rädern, aus Sorge vor Verletzungen, vor Unfällen, vor gesellschaftlicher Entfremdung. Ein Konzept, das nicht jedem gefällt, das aber seine eigene, stille Logik trägt.
Wenn ich nachts durch Fircrest fahre, die Straßenlaternen sanft den Asphalt berühren und das Tempo auch dann noch ehrfürchtig gehalten wird, fühlt sich alles fast zu sauber und gereinigt an. Wie ein Bühnenbild, das eine harmonische Welt inszeniert – aber doch fühlt man eine Spur Melancholie in der aufgezwungenen Geduld. In den Hinterhöfen, hinter den geschlossenen Gardinen, mögen die Menschen seufzen über das ewige Kriechen, das ihre Freiheit scheinbar einschränkt. Und doch retten gerade diese 25 Meilen pro Stunde manche Momente vor dem Verlust – vor dem Unfall, vor der Härte der Zeit.
Fircrest lehrt eine andere Art der Bewegung: nicht die des Wettlaufs, der Abhaken von To-dos, sondern das bewusste Dahingleiten, das Bemühen, wirklich zu sehen, was neben der Straße passiert. Es ist eine Langsamkeit, die irritieren, ja nerven kann, die aber eine wichtige Frage aufwirft: Warum eigentlich immer schneller, warum immer weiter, warum sich von einer Digitalwelt glorifizieren lassen, deren Maßstab nicht mehr der Mensch ist, sondern die möglichst kleine Zeiteinheit?
So ungewohnt der 25-MPH-Himmel in Fircrest zunächst scheinen mag – er öffnet den Blick auf eine andere Möglichkeit des Zusammenseins. Auf eine leise Revolte gegen die Hast. Und vielleicht, ganz vielleicht, auf ein Stück verlorenes Zeitgefühl, das irgendwo zwischen den Bäumen und den Schildern gegen den Strom seiner Zeit flüstert: Bleib langsamer, bleib wach, schau hin.