In einem der zahlreichen Besprechungsräume der Deutschen Bahn, umgeben von großflächigen Landkarten und einem unablässigen Rauschen der Klimaanlage, sitzen Führungskräfte und Juristen der Bahn, ihre Gesichter von einer Mischung aus Müdigkeit und Anspannung gezeichnet. Die Projektverantwortlichen blicken auf die Dokumente, die sich vor ihnen türmen – Akten über Akten, Beweisführungen und Gutachten. Auf den ersten Blick scheinen sie mehr eine anschauliche Darstellung des Chaos als die Lösung eines Problems zu sein. Ein Problem, das sich, angesichts der jüngsten Gerichtsentscheidung, weiter zu verkomplizieren droht.
Stuttgart 21 – ein Projekt, das für viele längst zum Inbegriff der gescheiterten Großplanung geworden ist. Als ambitionierte Infrastrukturvision 1994 ins Leben gerufen, um den Hauptbahnhof der baden-württembergischen Landeshauptstadt in eine unterirdische Anlage zu verwandeln, sollte es nicht nur die Anbindung des regionalen und überregionalen Verkehrs verbessern, sondern auch für städtebauliche Impulse sorgen. Was als Vorzeigeprojekt der Deutschen Bahn begann, hat sich in den letzten Jahren jedoch mehr und mehr wie ein finanzieller Albtraum angefühlt.
Die Mitwirkenden, die am Anfang einst mit Freude und einer Art Pioniergeist an die Sache gingen, sind inzwischen oft frustriert und bisweilen verwirrt. Die enormen Mehrkosten, die mittlerweile in die Milliarden gehen, sind ein Angriff auf alle, die in die Grundsätze eines fairen Projektmanagements geglaubt haben. Die jüngste Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart, die Bahn solle die vollen Kosten allein tragen, stellt nicht nur einen rechtlichen Schlussstrich dar, sondern auch einen kulturellen Umbruch in der Beziehung zwischen der Bahn und ihren Projektpartnern.
In der lokalen Presse wird diesem Urteil viel Raum gegeben – das Spiel des Risikos, das die Stadt und der Flughafen Stuttgart nicht mitspielen würden. Das sieht auch Oliver, ein technischer Ingenieur, so, der über zehn Jahre an Stuttgart 21 gearbeitet hat. “Die Bahn hat einen Fehler gemacht, indem sie die Verantwortung für die Mehrkosten an die Partner abgeben wollte. Menschen machen Fehler, aber die Bahn hätte das vorhersehen müssen. Ich sehe keine falschen Versprechen in den Gesprächen, aber wie oft hat man das Gefühl, dass nichts Vorhersehbares praktisch ist? Das hat die Partner einfach frustriert.”
Frustration ist ein Wort, das in den letzten Jahren in den Fluren der Bahn immer wieder zu hören ist. Der Druck auf die Verantwortlichen, aus den engagierten Projektplänen eine greifbare Realität zu machen, wurde spätestens 2018 unerträglich, als die ersten offiziellen Mehrkosten von 2,5 Milliarden Euro bekannt wurden. Nach schier endlosen Gerichtsstreitigkeiten glaubt nun niemand mehr, dass dieses Projekt nicht wie ein Klotz am Bein der Bahn hängen bleibt, Ruhrpott-Graffitis lassen grüßen.
Die Vorwürfe und Klagen zwischen den Beteiligten, inklusive der Stadt Stuttgart und der Projektgesellschaft, kommen immer wieder ans Licht. Interviews mit ehemaligen Beteiligten zeigen ein Bild, das von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist. “Jeder geht davon aus, dass der andere zuerst handelt”, erinnert sich Hannes, ein ehemaliger Projektmanager mit einem charmanten Lächeln, der nach einigen erfolgreichen Jahren bei der Deutschen Bahn den Rücken gekehrt hat. “In der Logik des Projektes war es nie klar, wer für die Mehrkosten aufkommt, und das hat fast alle entmutigt.”
In den Bänken des Hauptbahnhofs in Stuttgart, wo Menschen kommen und gehen, drängt sich ein Gedanke auf: Was bleibt von einer solchen verfeindeten Partnerschaft? Ein Fahrgast, der nicht zufrieden mit den Abfahrtsinformationen ist, murmelt: “Das ist doch ein Geldgrab, diese Baustelle. Die Stadt könnte das Geld besser in die Schulen stecken.” Solche Gedanken sind Teil eines größeren Narrativs, das sich um Stuttgart 21 rankt. Die Frage nach dem „Warum?“ und „Wie Lang noch?“ hat sich in den letzten Jahren fest in das städtische Bewusstsein eingegraben.
Aber, und das ist entscheidend, die Frage bleibt nicht auf das Projekt beschränkt. Sie wirft ein Licht auf die gesamtgesellschaftlichen Erwartungen, die an öffentliche Institutionen und große Unternehmen gestellt werden. Die Deutschen wollen mehr als nur effiziente Transportmöglichkeiten. Sie fordern Antworten auf die Kosten, die mit solchen Projekten verbunden sind. Die Welt hat sich längst weiterentwickelt und die Menschen verlangen nach Transparenz und Verantwortlichkeit.
Angela, eine Stadtplanerin aus Stuttgart, drückt es ebenfalls gut aus: “Wir leben in einer Zeit, die von Partizipation und Mitgestaltung geprägt ist. Wer sich in der Politik engagiert, hat das Recht zu fragen: Wo ist unser Geld? Wo bleibt die Verantwortung?” Der Konflikt um Stuttgart 21 ist zu einem Mikrokosmos geworden, der die Spannungen enthüllt, die in unserer Gesellschaft am Werk sind: Macht und Verantwortung. Wer übernimmt welche Last, und wie gehen wir mit den Konsequenzen um?
In den kühlen Konferenzen der Bahn scheinen die Lichtverhältnisse sich langsam zu verändern, von einer erdrückenden Dunkelheit hin zu einem schwachen Schein. Werden sie es schaffen, die Mehrkosten nicht nur aus rein ökonomischer Sicht zu betrachten, sondern im Kontext des Gesehenen wieder Menschen in den Vordergrund zu rücken? Der Ausgang dieses unaufhörlich wirkenden Rechtsstritts wird sich irgendwann entscheiden, aber die Wunden sind längst sichtbar geworden.