Manchmal liegt das Risiko im scheinbar Harmlosen. Im Tanz des Lebens, der sich im Alter keineswegs verlangsamt, lauert eine Gefahr, die viele unterschätzen: der Sturz. Ein tiefer Fall, der nicht nur Haut und Knochen, sondern auch die Zuversicht erschüttern kann. Wie schnell aus Routine ein unvorhersehbares Unglück wird, zeigt sich daran, wie selbst die fitten „jüngeren Alten“ wie von einem Stein aus dem Gleichgewicht gebracht werden können.
Sabine Lehmann ist 68, joggt zweimal die Woche und hat gerade ihre Enkelin heute Morgen schwungvoll durch den Park getragen. „Ich fühlte mich stärker als je zuvor,“ sagt sie lachend, „bis ich letztes Jahr auf dem glatten Bürgersteig ausgerutscht bin.“ Die Folgen? Ein komplizierter Bruch im Handgelenk, Wochen voller Schmerz und Bewegungseinschränkungen, die sich wie eine unsichtbare Mauer zwischen sie und ihr gewohntes Leben schoben. „Ich dachte, Stürze sind etwas für viel ältere Menschen, nicht für mich“, erzählt Sabine. Dabei, wie Experten warnen, sind gerade die aktuell aktiven Älteren, die ihre Rente mit Wanderungen, Tanzkursen oder gar Marathon-Training füllen, oft gefährdet – weil sie sich körperlich fit fühlen, aber nicht genug auf ihre Umgebung und kleinen Warnsignale achten.
Der Sturz ist mehr als nur ein Unfall, er ist ein Wendepunkt. Studien zeigen, dass einem Unfall häufig eine Verkettung aus unterschätzten Risiken vorausgeht: ein loses Pflaster, eine ungünstige Schuhwahl, eine plötzliche Unaufmerksamkeit. Für die Betroffenen kann er das Signal für eine schleichende Verunsicherung sein – die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die plötzlich körperliche Verletzlichkeit offenbart. Die Praxis vieler Geriater bestätigt diesen Umstand: Sie sehen Patienten, die vor allem nach einem Sturz einen langen Weg zurücklegen müssen, um in ihre Beweglichkeit und Lebensfreude zurückzufinden.
Dabei ist es paradox: Gerade Bewegungsdränge – die Lust an der Selbstbestimmung, der aktive Lebensstil, die scheinbar bessere körperliche Fitness – können die Gefahr erhöhen. Ohne ein gezieltes Bewusstsein für das kleinteilige Risiko droht die Falle, wie ein Bergsteiger, der die Lawinengefahr ignoriert. Es geht also nicht allein um Muskeln oder Schnelligkeit, sondern um das sensible Zusammenspiel von Körper, Geist und Umwelt. Die Balance, die genau im richtigen Moment die Füße fest auf den Boden bringt.
Unsere Städte sind für Senioren oft keine sicheren Orte. Risse im Asphalt, schlecht sichtbare Stolperfallen, eilige Fahrradfahrer und hektische Menschenmengen – das ist der Dschungel, in dem sich viele Ältere jeden Tag neu orientieren müssen. Eine unachtsame Bewegung, eine kleine Unaufmerksamkeit – und schon ist der Sturz da. Andreas, 72, der trotz Gehstock eine beachtliche Wandergruppe anführt, beschreibt das so: „Manchmal ist es wie ein Tanz auf einem Minenfeld. Du denkst, du kennst jeden Schritt, aber die Straße ändert sich, der Körper will nicht mehr so funktionieren wie früher.“
Wie also lässt sich diesem ungleichen Wettkampf beikommen? Die Antwort liegt in einer Mischung aus Vorsorge und Achtsamkeit. Prävention, sagen Fachleute, ist eine Kunst: Von einfachen Dingen wie hellem Schuhwerk und regelmäßigen Seh-Checks bis hin zu gezieltem Training, das nicht nur Muskeln stärkt, sondern auch Gleichgewicht und Reflexe schult. Doch auch der Umgang mit Scheitern, denn das Stürzen lässt sich nicht immer vermeiden. Wie viel Raum schenkt unsere Gesellschaft den Erzählungen über Stürze? Und wie begegnet sie den Verletzten, die sich aus den Tiefen eines Sturzes mühsam zurück ins Leben kämpfen?
Vielleicht geht es am Ende nicht darum, das Alter und seine Risiken wegzuschieben oder im sicheren Kokon zu verstecken. Vielleicht ist die Herausforderung eher, mit verletzlicher Kraft zu leben, mit einem wachen Blick auf die kleinen Unsicherheiten und zugleich dem Mut, sich immer wieder aufzurappeln und weiterzugehen – wach, aufmerksam, aber trotz allem voller Lebensdurst. Denn wie Sabine Lehmann sagt, nachdem sie monatelang an der Hand operiert und trainiert hat: „Ich bin gefallen, aber ich lasse mich nicht festhalten. Ich will weiter tanzen, laufen, leben – auch wenn ich weiß, dass ein falscher Schritt immer möglich ist.“ Ein Tanz auf dünnem Eis, ja, aber einer, der gehört zum Älterwerden dazu – ungeschönt, ehrlich und letztlich zutiefst menschlich.