Wenn die neueste Umfrage zu den politischen Stimmungsbildern in Europa durch das Neonlicht des Digitalzeitalters schimmert, ein Bild schimmert, das viele lange für unwahrscheinlich hielten: In Großbritannien, Frankreich und Deutschland – drei Säulen der europäischen Demokratie – führen erstmals rechtsradikale Parteien. Diese Tatsache ist nicht nur eine Momentaufnahme, sondern fingert tief in die gesellschaftlichen Schichten einer unruhigen Kontinentalstruktur.
Um das zu begreifen, reicht kein Blick auf nüchterne Zahlen. Es sind die Gesichter, die in kleinen Dörfern, Vorstädten und Metropolen auftauchen, die von diesem Wandel erzählen. Im nordfranzösischen Calais, einem Ort, der seit Jahrzehnten im Schatten der Passage zum Ärmelkanal steht, spricht Jean-Pierre, 56, vom Aufstieg der „Rassemblement National“. Sein Rücken ist von der Arbeit in den Werften gekrümmt, sein Blick müde und durchdrungen von Skepsis: „Früher haben wir zusammengehalten, heute kämpfen alle für sich. Die Politik hat uns vergessen.“ Für ihn, wie für viele seiner Mitbürger, ist die Partei um Marine Le Pen eine Antwort auf die vermeintliche Gleichgültigkeit der Eliten – eine Stimme, die den Frust bündelt und kanalisiert.
Ähnliche Muster zeichnen sich entlang der Spree in Berlin ab. Gerade zwischen den multikulturellen Vierteln Prenzlauer Berg und Neukölln hat die Alternative für Deutschland (AfD) in den letzten Jahren Stimmen aufgesogen, die sich vom klassischen Parteienspektrum entfremdet fühlen. Anna, 34, Sozialarbeiterin, beschreibt den Wandel, den sie beobachtet: „Es ist nicht nur die Angst vor Überfremdung oder Sicherheitsverlust. Viele fühlen sich ökonomisch abgehängt. Die Globalisierung, die Digitalisierung, sie haben unsere Welt verändert, aber nicht für alle zum Besseren.“ Trotz ihrer eigenen politischen Überzeugungen kann sie die Stimmen der AfD-Anhänger nicht schlichtweg als bigott oder rechtsradikal abtun. „Es ist ein Gefühl des Verlorenseins, das sie antreibt. Dieses Gefühl will man verstehen, sonst bleibt es gefährlich.“
Und dann ist da noch die Insel, Großbritannien, das sich nach dem Brexit erneut in einem innenpolitischen Erdbeben wiederfindet. Nigel Farage und seine Partei erreichten erstmals, dass nationalistische, konservative und populistische Stimmen die politische Landschaft dominieren. Die Brexit-Kampagne hat Parolen gedient, die tiefer waren als allein die Vorstellung von Souveränität. Im nördlichen Yorkshire sitzt Mark, ein pensionierter Minenarbeiter, in seinem Lieblingspub. „Wir haben genug vom leeren Gerede in London, wir wollen echte Macht für uns hier.“ Seine Erfahrung spiegelt den langen Schatten nach, den der wirtschaftliche Niedergang ehemals prosperierender Industriezonen hinterlässt. Für ihn bedeutet „rechts“ nicht nur eine politische Koordinate, sondern vor allem eine Hoffnung auf Erneuerung – auch wenn diese Hoffnung oft mit Ressentiments und Abschottung einhergeht.
Alle drei – Jean-Pierre, Anna und Mark – zeigen uns, dass die Entwicklung von rechtsradikalen Hegemonien in so unterschiedlichen Ländern nicht monokausal zu verstehen ist. Vielmehr sind es die leisen Reflexionen verzweifelter Identitäten, der Rückzug ins Nationale als Schutz gegen das unüberschaubare globale Heute, und die Erosion etablierter sozialer Sicherheiten, welche zusammen ein Rezept für den Aufstieg rechter Parteien liefern.
Im urbanen Café, in dem ich diese Stimmen sammle, wirft jemand beiläufig einen Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse, kommentiert trocken: „Vielleicht sind sie auch nur das Symptom einer Krankheit, die wir noch nicht richtig kennen.“ Es sind diese Geschichten, Momentaufnahmen inmitten der politischen Schieflage, die mehr verraten als jede Umfrage: Hier fühlen sich Menschen schlichtweg nicht mehr vertreten – egal ob in London, Paris oder Berlin. Die extreme Rechte nutzt genau diese emotionale Kluft, öffnet eine Tür, die viele glauben, wäre längst geschlossen.
Dass diese Parteien nun an der Spitze stehen, ist keine Eruption aus dem Nichts. Es ist das Echo kollektiver Sorgen, eine Antwort auf das Verborgene des Alltags. Zwischen Brexit-Chaos, dem Groll über Immigration und Digitalisierung, zwischen Angst vor sozialem Abstieg und dem Frust über politische Apathie haben sich neue Muster eingegraben. Muster, die nicht verschwinden, nur weil wir sie ignorieren.
Es gibt kein einfaches Rezept gegen diesen Trend, denn er sprießt aus den Wurzeln unserer Gesellschaft selbst – aus der Frage danach, wessen Geschichte erzählt wird, wer dazugehört oder ausgeschlossen wird. Wenn die rechte Stimme lauter wird, dann ist das nicht nur ein politisches Phänomen, sondern auch ein kulturelles, menschliches: Ein Aufbegehren gegen die Unsichtbarkeit, ein Ruf nach Zuordnung in einer Welt, die ständig in Bewegung ist.
Die leisen Risse werden sichtbar, nicht zuletzt beim Abendessen in französischen Familien, im Gespräch zwischen Arbeitskollegen in Deutschland oder beim Geplauder an englischen Theken. Dort spürt man das Unbehagen, das den Boden für einen neuen Generationenkonflikt legt – zwischen einer globalisierten Elite und denjenigen, die fühlen, dass sie im Sturm der Modernisierung über Bord gehen.
Wer die Zukunft Europas betrachten will, muss daher genau diesen Stimmen zuhören – statt sie nur zu zählen. Sie sind der Spiegel unseres Gegenwart, verzerrt und zerrissen, voller Widersprüche und Hoffnungen. Eine Melange aus Vergangenheit und Zukunft, die sich gerade jetzt laut und ungefiltert Bahn bricht.