Ein Wolkenmeer breitet sich über dem leuchtend blauen Pazifik aus, die Sonne taucht die vulkanische Insel Hawaiis in ein warmes Gold. Am Strand sammelt sich eine mehr oder weniger zusammengeschweißte Schar von Fremden; in den Händen Tafeln, Stöcke oder ganz banal ihre eigenen Hände. Sie sind keine Familie, keine Touristen in einer organisierten Reisegruppe, sondern Menschen, die aus einer Andacht heraus zusammengefunden haben, um eine uralte Tradition zu pflegen: das Schildkröten-Strandputzen. Während ich in den letzten Wochen meines Heimaturlaubs auf Big Island hineingestolpert bin in dieses kleine Ritual, begann ich zu verstehen, wie seltsam ineinander verschlungen Selbstfürsorge und Fürsorge für andere tatsächlich sind.
Das erste Mal fiel mir dieses Gefühl zwischen Fußspuren und Meeresschaum auf, als ein älterer Mann mit wettergegerbter Haut und tiefgründigen Augen mich mit einem „Aloha!“ begrüßte und fragte, ob ich mithelfen wolle. Ich, die sonst eher als Skeptiker im Umgang mit exotischen, spirituellen Mantren gilt, war verblüfft. „Wir helfen der grünen Schildkröte hier“, sagte er, „sie sind heilige Besucher. Doch der Müll vernebelt ihren Lebensraum.“ Die Tüte, die er mir reichte, war schnell mit Plastikresten und Zigarettenkippen gefüllt, ich lernte langsam Gesichter hinter den simplen Handlungsmustern zu sehen: Da war Malia, die junge Surferin mit schneeweißen Haaren, deren sanfte Geduld selbst die wildesten Wellen zu bändigen schien. Oder Keanu, der meditativ mit einer Pinzette winziges Plastik herauszog, als ob er einem empfindsamen Schatz auf der Spur wäre.
Die Sonne sank, es wurde kühler, die Gespräche gingen weit über die konkrete Tätigkeit hinaus – vom Zerfall der Umwelt, den Arten, die wir für selbstverständlich genommen haben, über die Erschöpfung moderner Lebenswelten bis hin zur Frage, was es eigentlich bedeutet, „für sich selbst zu sorgen“. Dabei fühlte ich mich weniger wie eine Helfende oder Beobachterin, sondern wie jemand, der Teil eines langsam entstehenden Netzes geworden war – das Netz der Fürsorge.
Zurück in der Hektik des Alltags, das graue Büro in der europäischen Stadt, merke ich, wie die Erinnerung an diese kleine Solidaritäts- und Achtsamkeitsgemeinschaft mich seither begleitet. In einem Zeitalter, in dem Selbstfürsorge oft mit Yoga, Bubble Baths und digitaler Detox-Wellness übersetzt wird, ist dies eine andere, vollkommen andere Lehre gewesen: Selbstfürsorge kann bedeuten, sich um etwas außerhalb des eigenen Ichs zu kümmern. In dem Moment, als ich den Müll zusammensammelte und mit einem fremden Menschen über die Zerbrechlichkeit unserer Natur ins Gespräch kam, hatte ich das Gefühl, dass meine Seele selber atmen konnte.
Diese Erfahrung bringt eine Schwierigkeit mit sich: Sie erfordert den Ausbruch aus der Komfortzone der Selbstzentriertheit und den Blick auf ein größeres Ganzes. Vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung in unserer Zeit – nicht weniger, sondern mehr Fürsorge für andere zu empfinden, wenn alles scheinbar nach Vereinzelung und Selbstoptimierung schreit. Hawaii, mit seiner paradiesischen Kulisse, war für mich der Spiegel, der zeigte, wie gut es tut, sich miteinander zu verbinden, auch wenn man sich nie zuvor begegnet ist. Fremde, die sich umeinander sorgen: Das ist eine radikale Form von Selbstfürsorge, eine, die mit dem Rauschen der Wellen und dem gemeinsamen Sammeln von Müll beginnt und weit darüber hinausreicht.
Als ich eines der letzten Male am Strand stand, den Blick auf das glitzernde Wasser gerichtet, meinte eine Frau, die ich inzwischen nur noch mit „Auntie“ anredete, beiläufig: „Wenn du dir selbst wirklich helfen willst, musst du aufhören, allein zu sein.“ Ein Satz, der erst noch wie ein paradoxes Rätsel wirkt – aber dann, wenn die Sonne untergeht und die Schildkröten unter der Oberfläche weiterziehen, bekommt er eine seltsame Wärme. So habe ich gelernt: Selbstfürsorge ist keine einsame Reise. Sie ist das zarte Geflecht aus Nähe, Berührung, Mitgefühl und – ja – der Bereitschaft, sich gemeinsam um eine Welt zu kümmern, die zu groß ist, um sie allein zu schultern.