In der Zentrale von ING Deutschland in Frankfurt am Main flimmern die Bildschirme in harmonischem Blau. Die Farben wirken beruhigend, fast schon freundlich. Eine Oase im hektischen Bankwesen, in dem es in den letzten Jahren um alles gegangen ist – vor allem um die Kunden. Während Lars Stoy, der neue CEO, mit großen Schritten durch die Büros wandert, ist ihm die Aufmerksamkeit um ihn herum fast greifbar. Ein tiefes Verständnis für den Markt und die komplexen Bedürfnisse seiner Kunden ist sein Leitfaden.
Stoy, ein Mann in seinen späten Fünfzigern mit verbindlicher Ausstrahlung, nimmt sich Zeit, um an jedem Schreibtisch stehen zu bleiben und seinen Mitarbeitern zuzuhören. Er muss ein Gespür für die gefühlte Unsicherheit haben, die in der Luft liegt. Der Druck, in einem geschäftigen Bankensektor zu wachsen und gleichzeitig ein gleichwertiges Kundenerlebnis für alle zu gewährleisten, ist omnipräsent. „Kunden zweiter Klasse soll es nicht geben“, spricht er klar und bestimmt, doch es schwingt bereits die Erkenntnis mit, dass einige Kundengruppen besondere Aufmerksamkeit verdienen – das erste Zeichen seiner Strategie.
Die ING, vormals eine klassische Niederlassungsbank, hat sich mit dem Aufstieg des digitalen Bankings neu erfunden. Die lange Tradition von persönlichen Beratungsgesprächen hat sich in ein luftiges, digitalisiertes Kundenerlebnis verwandelt. Stoys Vorgänger waren oft gezwungen, pragmatische Entscheidungen zu treffen, die Wachstum durch Kostensenkung und Standardisierung vorgezogen haben. Jetzt jedoch steht ein Mann am Ruder, der den menschlichen Faktor zurück ins Spiel bringen will.
„Wir müssen uns fragen, wer unsere Kunden wirklich sind“, sagt Stoy und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Nicht nur in Zahlen gegossene demografische Daten, sondern fühlende Menschen mit ihren Bedürfnissen, Träumen und Herausforderungen.“
Er hat einen klaren Plan: Stoy möchte die Kundenreise – die „Customer Journey“ – neu gestalten. Während einige Banken sich darauf konzentrieren, die Preise in den Keller zu treiben, verfolgt er eine differenzierte Strategie: Nicht der Preis, sondern der Wert soll im Zentrum stehen. Für viele Finanzberater mag das eine verdrehte Sichtweisen sein, doch Stoy hat die Vision, verschiedene Kundenkategorien klar zu definieren und seine Angebote genauer darauf auszurichten. Vom jungen Start-up bis hin zur finanziell bewussten Frau mittleren Alters – jeder Kundenstamm soll spezifische Dienstleistungen und Produkte erhalten. Und so bleibt der Fokus stets auf den individuellen Bedürfnissen.
Ein leises Murmeln erfüllt den Raum, als er von seiner Idee erzählt, „Kundeninteresse“ als das neue Gold für die ING zu definieren. „Es geht nicht nur darum, was wir verkaufen können, sondern wie wir mit unseren Kunden kommunizieren“, sagt er und sein Blick wird lebendig. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit auf Berichte und Feedbacks, die durch Chatbots, Social Media und andere digitale Kanäle gesammelt werden. „Mit künstlicher Intelligenz können wir nicht nur erkennen, was ein Kunde sucht, sondern auch, was er braucht, bevor er es selbst weiß.“
In einem anderen Büro arbeitet ein Team von Marketingexperten intensiv an der Neuausrichtung der Marke. Plakate mit den Slogans „Sicherheit“ und „Vertrauen“ hängen an den Wänden. Zwei Begriffe, die in der heutigen Bankenwelt mehr denn je von Bedeutung sind. Sie sind viel mehr als nur leere Versprechen.
Die ING hat es sich zur Aufgabe gemacht, Vertrauen zurückzugewinnen. In den letzten Jahren haben Banken häufig als die missverstandenen, oft gierigen Unternehmen gegolten, die ihre Kunden ausnehmen. Stoys Ziel ist es, die Wahrnehmung der Marke von einer namhaften Mehrheit zu einer treuen Gemeinschaft zu ändern. „Wir wollen, dass unsere Kunden das Gefühl haben, dass wir für sie da sind, wenn sie uns brauchen“, erklärt er.
Die Herausforderungen sind enorm. Während sich die Wettbewerber aggressiv im Preis unterbieten, muss Stoy gleichzeitig eindringlich vermitteln, dass Persönlichkeit und Verständnis nicht durch ein paar gesparte Euro ersetzt werden können. Ein eindrückliches Beispiel ist ein Austausch mit einer Kundin, die vor einer finanziellen Entscheidung steht. „Wenn wir nicht in der Lage sind, ihr das Gefühl zu geben, dass wir an ihrer Seite stehen, dann verlieren wir sie“, sagt Stoy mit Nachdruck.
Die Gesichter in den Büros hinter Stoy reflektieren eine Mischung aus Aufregung und Skepsis. Es gibt Stimmen, die sagen, dass der planvollen Anpassung an die Bedürfnisse der Kunden Zeit bedarf – ein Luxus, den die meisten Banken nicht haben. Doch die ING hat Zeit, analysiert Daten und lernt. Die Digitalisierung bietet eine nie dagewesene Möglichkeit, ihr Publikum direkt und persönlich zu erreichen, so Stoys Überzeugung.
„Jeder Kontakt zählt“, sagt er und sein Gesicht hellt sich auf. In den Blick eines jeden Mitarbeiters schwingt die Frage mit: Was bedeutet das für uns? Ist die ING bereit, den ersten Schritt zu gehen und das Risiko einzugehen, in einem Markt weiter zu wachsen, der immer weniger freundliche Züge zeigt?
Mit einem entschlossenen Lächeln wendet sich Stoy einer Wand zu, auf der die Schlagzeilen über Bankenkrisen und Skandale angeheftet sind. Es ist eine ständige Erinnerung daran, worauf es wirklich ankommt: Den Kunden – den Menschen. Und es ist dieser Gedanke, der die ING am Leben halten soll, selbst in einem Wettbewerb, wo der Preis oft über alles andere entscheidet. Ein Wachstum um jeden Preis scheint weniger relevant, wenn das Herz der Bank im geschäftigen Rhythmus der menschlichen Bedürfnisse schlagen kann.