Der Schatten der Zollmauer: Victorinox und die Zukunft des Schweizer Taschenmessers
Das Licht der Morgensonne bricht sich auf dem massiven Eichentisch im Verwaltungsgebäude von Victorinox. Der Duft frisch gebrühten Kaffees vermischt sich mit der kühlen Luft, die durch die Fenster strömt. An diesem Ort, der gleichzeitig Werkstatt und Ideenlabor für das berühmte Schweizer Taschenmesser ist, sitzen die Macher und Träumer der Marke. Was hier entsteht, hat die Kraft, Millionen Menschen in die Natur und ins Abenteuer zu ziehen – und doch ziehen dunkle Wolken auf.
Carl Elsener, der CEO von Victorinox, sieht aus dem Fenster. Seine Augen sind nicht die eines Mannes, der vom Erfolg übermannt wird. Es ist etwas nachdenkliches, fast trübsinniges in seinem Blick. Während andere CEOs ihre Unternehmen durch stürmische Märkte navigieren und ihre Landkarte mit großen Wachstumsversprechen zeichnen, hat Elsener ein anderes Kärtchen in der Hand: „Wir stehen vor einer Entscheidung“, sagt er, und es klingt mehr wie eine Klage als eine Erklärung.
Die US-Regierung hat einen neuen Strafzoll auf Importwaren aus Europa eingeführt, und das trifft nicht nur regionale Lebensmittel oder Weine, sondern auch die kleinen Metallgeister, die viele von uns lieben: die Taschenmesser von Victorinox. Das ikonische Rot, der Schimmer des Edelstahlblatts – für viele ist dieses Messer nicht nur ein Werkzeug, sondern ein Stück Schweizer Identität. Doch diese Identität droht, unter dem Druck internationaler Politik unterzugehen.
„Wenn sich die Lage nicht ändert, dann werden wir in den USA kein Geld mehr verdienen“, murmelt Elsener und streicht mit einem Finger über die Oberfläche des Tisches, als könnte er die Gedanken und Sorgen durch die Berührung bannen. Etwas von der Schwere dieser Aussage schwingt in der eleganten Holzmaserung wider. Victorinox hat sich über Jahrzehnte als unverzichtbarer Begleiter im Alltag des modernen Menschen etabliert; die Rückkehr ins Handyzeitalter, in dem das Taschenmesser vielleicht nur ein nostalgischer Gegenstand ist, gewinnt an Realität.
Die Tür öffnet sich, und ein junger Mitarbeiter tritt ein. Er hält ein neuestes Modell des Taschenmessers in der Hand – elegant, leicht, ein wenig futuristisch. „Carl, schau dir das an!“, ruft er begeistert. Doch die Begeisterung, die in seinen Augen glitzert, kann nicht ganz die trüben Gedanken des CEOs vertreiben. „Das sind für uns nicht nur Produkte. Das ist eine Geschichte“, sagt Elsener. „Und diese Geschichte kann nicht mit Zöllen erstickt werden.“
Die Zollerhöhungen sind nicht die erste Bedrohung, mit der Victorinox kämpfen musste. Der globalisierte Markt hat nicht nur Händler gleichzeitig zu Partnern und Konkurrenten gemacht, sondern auch die Balance zwischen Tradition und Innovation auf die Probe gestellt. Während Australien und Asien sich als neue Märkte aufblühen, drohen die USA, der größere Teil des Kuchens, sich als unnahbar zu erweisen.
Wir sehen uns in der Produktionshalle um, und die Maschinen rattern ein gleichmäßiges Lied, während die Handwerker akkurat und mit bemerkenswerter Präzision arbeiten. Hier, in Ibach, einem kleinen Dorf in der Zentralschweiz, wird jede Klingenmarkierung zu einem Versprechen. Ein Versprechen, das die Amerikaner einst so gerne annahmen. Doch die Zöllen schmälern den Glanz dieses Traumes. „Wir müssen kreativ werden, um unsere Produkte in den USA zu verkaufen, aber die Preiserhöhung führt dazu, dass weniger Menschen bereit sind, in ein Schweizer Taschenmesser zu investieren“, erklärt Elsener.
Ein paar Meter weiter steht ein älterer Handwerker, der mit dem feinen Schleifpapier eine Klinge bearbeitet – sein Gesicht ist von Konzentration geprägt. „Denkst du, dass die Leute aufhören werden, unsere Messer zu kaufen?“, fragt er, als wir beobachten, wie er seine Handgriffe verfeinert. „Es gab schon viele Krisen, aber noch nie war das Gefühl so stark, dass wir auf eine Entscheidung zusteuern, die unser Überleben bestimmen könnte.“
Die Wurzel von Victorinox ist tief in der Schweizer Erde verwurzelt: Hier wird nicht nur ein Produkt, sondern auch ein Erbe geschaffen. Und als Ces aus dem Urvater des Schweizer Taschenmessers spricht — als er es 1884 erfand — liegt der Gedanke hinter diesem Erbe nicht nur im materiellen, sondern auch im menschlichen. Die Rahmenbedingungen des Handels können sich ändern, die Tradition der Handwerkskunst jedoch bleibt.
„Wir können den Zöllen nicht entkommen. Aber wir können die Art und Weise verändern, wie wir mit unseren Kunden interagieren. Das ist die einzig mögliche Antwort auf diese Herausforderung“, erklärt Elsener mit gedämpfter Energie. Im Hallenraum der Maschinen gelingt es ihm, Hoffnung zu schöpfen – aus der Verbindung zur Vergangenheit, die Mut für die Zukunft gibt.
Der Nachmittag neigt sich und der Himmel färbt sich in tiefen, sanften Tönen. Die Sorgen des Unternehmens stehen im Kontrast zu diesen Beruhigungen der Natur. Der Betrieb von Victorinox ist wie das gleichmäßige Pulsieren des geschäftigen Lebens: Es gibt viel zu tun, doch jeder Schritt zählt.
Der Tisch in der Verwaltung wird zum Nachdenken angeregt. Was, wenn das Schweizer Taschenmesser, das einst unverwechselbar und schwer zu ersetzen war, in einem sich rasant ändernden Markt verkommt? Der Wettlauf um die Zukunft bleibt spannend, düster und verheißungsvoll zugleich. Carl Elsener wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht den Sonnenuntergang hinter dem Bergfeld glühen. Auch in der Dunkelheit könnte etwas Neues wachsen — wenn nur die Zölle uns nicht die Luft zum Atmen nehmen.