Im schmalen Grenzstreifen zwischen Äthiopien und dem Sudan entlädt sich seit Jahrzehnten ein stiller Konflikt, einem unsichtbaren Riss gleich, der plötzlich anfängt, zu bluten. Über 35 Menschen sind diesen Sommer in Kämpfen gestorben, die tief verwurzelt sind in einem Jahrhundert voller Misstrauen, Landansprüchen und Geschichtsrevisionen. Ein Brennpunkt, an dem sich Grenzen nicht nur kartografisch, sondern auch in den Herzen der Menschen verfestigt haben.
Die Grenzregion, karg und weitläufig, erscheint auf den ersten Blick wie eine unberührte Landschaft. Doch unter der staubigen Oberfläche brodelt eine Geschichte, die weit über die aktuellen Gefechte hinausgeht. Die Menschen dort leben seit Generationen zwischen beiden Welt(en), ihre Identitäten und ihre Loyalitäten verhandeln sie jeden Tag aufs Neue. Hier besitzen Landrechte eine fast sakrale Bedeutung – ein Stück Erde ist mehr als nur ein Ort, es ist Erinnerung, Nahrung, Überleben und Stolz.
Auf der äthiopischen Seite erzählen Hirten von verlorenen Weiden, die plötzlich von Soldaten oder bewaffneten Gruppen beansprucht werden, während auf der sudanesischen Seite Dorfbewohner von den Nächten berichten, in denen Schüsse durch die Dunkelheit hallten. Hassan, ein älterer Bauer aus der sudanesischen Kleinstadt al-Fashaga, berichtet von der Angst, dass seine Familie bald vertrieben wird. „Der Boden, den ich beackere, gehörte schon meinem Großvater“, sagt er und legt die Hände auf das Erdbett, das kaum das wenige Leben trägt, das hier wächst. „Aber es heißt, sie würden kommen und uns nehmen, was uns gehört.“
Auf äthiopischer Seite spürt man die Verzweiflung ebenso. Leila, eine junge Eritreerin, die vor mehreren Jahren nach Äthiopien geflohen ist und in der Grenzstadt Humera lebt, hat ihre Hoffnung auf Frieden längst verloren: „Wir werden als Fremde behandelt, obwohl diese Grenze nur eine Linie auf einer alten Kolonialkarte ist.“ Sie beschreibt die Zerrissenheit der Menschen, die sich zwischen zwei Ländern und zwei Konflikten verloren fühlen. Der Krieg im Tigray, der Bürgerkrieg in Sudan: alles kommt zusammen hier, wo die Grenzen verschwimmen und damit auch die Zukunft.
Dabei sind es nicht allein die politischen Entscheidungen der Hauptstadtregierungen, die die Gewalt befeuern. Vielmehr sind es lokale Machtkämpfe, das Ringen um Ressourcen, die alltägliche Konkurrenz um Wasser und Weideland, die die Region immer wieder in Flammen setzen. Junge Männer aus beiden Ländern ziehen mit selbstgebastelten Waffen und alten Sturmgewehren durchs Gebüsch – keiner richtig Krieger, aber alle bereit, für das zu kämpfen, was sie als unantastbar ansehen.
Im kleinen Dorf al-Gadir, nahe der Grenze, sitzen Frauen in der Abendkühle beisammen, ihre Gesichter im vom Rauch schimmernden Licht der Feuerstellen. „Wir könnten von einem Millimeter Frieden mehr als von einer Million Soldaten träumen“, sagt Amina, eine Mutter von fünf Kindern. Sie spricht nicht laut, doch ihre Worte tragen das Gewicht von Jahren voller Entbehrungen und Verlust. Ihre Tochter sei vor kurzem bei einem Angriff verletzt worden, erzählt sie, und jeder Tag sei seitdem durch Sorge überschattet.
Die politische Führung beider Länder liefert sich ein diplomatisches Tauziehen um die genaue Grenzziehung und territoriale Ansprüche. Doch für die Menschen am Boden zählen diese Verhandlungen wenig, wenn sie abends ihre Angehörigen wiegen und hoffen, dass die Schüsse schweigen mögen. In diesem Grenzstreifen, für den Kolonialmächte vorgesetzte Linien zogen, leben Menschen, deren Verwurzelung in der Erde stärker ist als jegliche Karte.
Inmitten dieser komplexen Gemengelage von historischen Ansprüchen, ethnischen Zugehörigkeiten und wirtschaftlichen Notwendigkeiten zeigt sich eine Paradoxie: Die Grenze spaltet zwar, schafft aber auch ungewollte Verbindungen. Familien, die jenseits der Linie verwandt sind, Nachbarn, die früher miteinander Handel betrieben, sehen sich heute als Feinde. Das Misstrauen wächst, die Distanz scheint unüberwindbar.
Doch in den Schulklassen von Grenzstädten wie Metema oder Barakat erzählen Lehrer von Kindern, die trotz aller Widrigkeiten zusammen spielen, falsche Grenzen ignorierend. Sie malen Welten, in denen Nachbarschaft und gemeinsame Zukunft möglich erscheinen, auch wenn die Außenwelt anderes lehrt.
Der Konflikt an der äthiopisch-sudanesischen Grenze ist ein Puzzle aus Geschichten, Verlusten, Hoffnungen und Missverständnissen – ein Mikrokosmos für größere Fragen darüber, wie Nationen sich definieren, wie Erinnerung lebendig bleibt und wie Menschen unter diesen Bedingungen einen Ort nennen, an den sie Heimat sagen können. Die Linien auf der Karte mögen starr sein, doch das Leben in dieser Region zeichnet sich durch fließende Übergänge aus – manchmal brennt dieser Zwischenraum hell, manchmal leise.