In den Morgenstunden des 1. Oktober 2023 durchbrachen die Nachrichten aus Jerewan den Alltag. Die Regierung Armeniens und die Führung Aserbaidschans hatten einen lange erwarteten Friedensvertrag veröffentlicht, der nicht nur die Geschichte zwei gutnachbarlicher Länder anging, sondern auch die Zukunft der Region und ihrer Menschen. Der Text versprach etwas, das vielen als utopisch erschien: eine gegenseitige Anerkennung der Grenzen. Mehr als zwanzig Jahre nach einem blutigen Konflikt, in dem Tausende das Leben verloren hatten, schien dies ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Doch schon bald veränderte sich die Stimmung.
Inmitten der jubelnden Berichterstattung regte sich in Armenien eine aufkeimende Protestbewegung. Unweit des Republikplatzes, wo die Menschen oft für und gegen politische Entscheidungen demonstrieren, formierten sich in den nächsten Tagen kleine Gruppen. Sie schwenkten Plakate mit Aufschriften wie “Verhandeln nicht verraten!” und “Wir haben nichts zu verlieren außer unseren Schmerz!” Gesichter in der Menge waren von Sorge und Empörung gezeichnet, während sie ihre Stimmen erhoben und die Regierung für den vermuteten Verrat an der nationalen Identität und Souveränität kritisierten.
Der friedliche Kaffeekiosk an der Ecke, wo sich oft der Jünglingschor der Stadt versammelt, war während dieser Tage ebenso eine Zentrale der Unruhe. Es gab zwei Arten von Gesprächen: Die einen waren besorgt über den künftigen Status von Berg-Karabach, andere diskutierten die Notwendigkeit von Frieden. Adrine, eine junge Frau Mitte zwanzig, berichtete von ihrer Großmutter, die im vergangenen Jahr einen Schlaganfall erlitten hatte und in den Erinnerungen an die verlorenen Heimat ihrer Vorfahren lebte. „Das hier ist mehr als Politik,“ sagte sie mit feuchter Stimme. „Es ist unser Leben, unser Blut. Jeder dieser Kosten ist in unseren Adern verpackt.“
Trotz der Proteste erkannten einige in der Meldung des Friedensabkommens einen Hoffnungsschimmer. „Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass man an einen Dialog glaubt,“ meinte Davit, ein Lehramtsstudent, der den Kopf voller Ideen über Brücken kundig machte, die zwischen den verfeindeten Nationen geschlagen werden könnten. „Die Verhandlungstische könnten wirklich einen neuen Zyklus einleiten.“ Doch er wusste ebenso gut, dass Worte allein nicht ausreichen – sie müssen gefüllt werden mit einer verändernden Realität.
Die politische Landschaft in Armenien sieht hinter dieser Unruhe die Fragilität des Friedens. Der Unmut in den Straßen spiegelt sich nicht nur in den Gesichtern der Demonstrierenden wider, sondern auch in der erwachsenen Bevölkerung, deren Gespräche oft zwischen Melancholie und Trotz pendeln. „Wir haben zu lange gelitten. Warum sollten wir nun glauben, dass sie uns nicht erneut in den Abgrund führen?“, flüsterte Garine, eine Lehrerin, während sie und ihre Kolleginnen an einem Tisch in der kleinen Schule im Zentrum der Stadt saßen. „Es ist nicht nur Politik – es ist unsere Seele.“
In Aserbaidschan hingegen war die Reaktion auf den Friedensvertrag eine andere. Nationalstolz und Erleichterung durchdrangen die Landeshauptstadt Baku. Die obersten Ränge der Regierung lobten die Vereinbarung als historischen Durchbruch – eine Rückkehr zu diplomatischen Praktiken, die mit einem starren Militärdenken gebrochen werden könnten. Es schien ein wenig so, als würde man sich auf einen neu gefassten Anfang vorbereiten.
Bei einem der eingestellten Feierlichkeiten im Park, die dazu anregen sollten, den neuen Frieden zu feiern, ausgestoßene Witze und lautes Lachen schafften eine fast euphorische Stimmung. Chovman, ein junger Mann mit breitem Grinsen, schloss sich der Menschenmenge an und sah die Möglichkeit einer theoretischen Regenbogenbrücke auf sich zukommen: „Wir sind schon lange im Konflikt gefangen,“ erklärte er, während ein Sonnenstrahl seine roten Haare erhellte. „Aber das hier – das ist eine Chance für alle. Egal, woher wir kommen. Das macht uns zu einer Nation.“
Doch der Schatten der Vergangenheit, der über diesen positiven Moment verweilte, war nicht wegzudenken. Die Wunden waren frisch, Geschichten sangen von schmerzlichen Verlusten und Kämpfen, die sich über Generationen zogen. Die Kriegsniederlagen, die Familien tragisch auseinandergerissen hatten, schlichen in viele Gespräche hinein und erinnerten an verbrannte Brücken und zerschlagene Realitäten.
Der Frieden, so schien es, kam mit einem Preis, und ob dieser Preis tragbar war, blieb ungewiss. Die Armenier fühlten sich umso verletzter, wenn sie sahen, wie schnell ihrem Nachbarn ein Glauben an Frieden gewährt wurde, während die eigene Heimatgeschichte nicht nur in der eigenen Erzählung zerrissen wurde. „Wir müssen erst mit uns selbst im Reinen sein, bevor wir nach außen blicken können,“ stellte Tigran, ein alter Veteran des Krieges, fest, während er auf das wogende Meer am Horizont deutete. „Wer gemeinsam heilt, sieht nicht die Wunden des Andersdenkenden, sondern die Brücken. Wollen wir hoffen, dass die Politik diesen verheißungsvollen Raum versteht.“
In den untergehenden Abendstunden des ersten Oktobers war es schwer, einen Konsens zu finden, der für alle galt – die Hoffnung auf Frieden war da, dennoch blieben die Herzen der Menschen zerklüftet. Der Frieden, an den die Staaten glauben, könnte sich verflüchtigen, während der eigentliche Krieg um Ideen, Identität und Heimat nur gerade begonnen hatte.