Mitten im Herzen von Kiew steht ein Denkmal, das auf den ersten Blick kaum zu fassen ist. Es ist eine Offenbarung für jene, die das Meer lieben, und eine skurrile Überraschung für jene, die mit den Kreaturen der Tiefsee nichts anfangen können: eine schimmernde Statue eines Seegurke – einer seltsam gestalteten, vielleicht ein bisschen unappetitlichen, aber faszinierenden, ja fast mythischen Meerestiere. Was als eine witzige Idee begann, ist längst zu einem kleinen Pilgerort geworden, an dem sich Kiewer und Besucher aus aller Welt versammeln, um eine ganz besondere Beziehung zu einem in Vergessenheit geratenen Wesen zu pflegen.
Die Geschichte der Seegurke ist eine Geschichte von Missverständnissen. In der populären Vorstellung sind sie schleimige, namenlose Kreaturen, tauchen irgendwo am Meeresgrund auf und fristen ein unauffälliges Dasein. Niemand denkt daran, dass sie wichtige Rollen im marinen Ökosystem spielen – als „Reiniger“ der Ozeanböden, die Schlamm schlürfen und so das Wasser klarhalten. Und doch: In dieser scheinbar banal-unscheinbaren Existenz verbirgt sich eine leise Anmutung von Widerstand. Kein anderes Tier scheint so oft belächelt und doch nicht kleinzukriegen zu sein.
Die Eröffnung des Denkmals im Frühjahr 2023 durch eine Gruppe von Kunstschaffenden und Meeresbiologen in Kiew war zunächst eine Laune, ein augenzwinkernder Umgang mit einer verkannten Kreatur. Die Stadt, durch den Krieg zerrissen, suchte nach neuen Wegen, ihre Identität zu leben, zu feiern und ihrem Publikum eine andere Geschichte zu erzählen – nicht bloß die von Zerstörung und Heldenmut, sondern auch die von Verletzlichkeit und eigenwilliger Schönheit. So wurde aus einer kleinen ironischen Geste ein Symbol für Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit. Wie die Seegurke selbst.
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch: Ein frostiger, grauer Tag, der Himmel tief verhangen. Umgeben von zackigen Sowjetbauten und pulsierendem Straßenlärm, stieß ich auf diese wunderliche Skulptur, deren Oberfläche matt schimmerte und sich unter dem Winterlicht wie eine fremde Sphäre anfühlte. Kinder liefen herum, ihre Blicke zwischen Staunen und Ekel schwankend, während ältere Passanten langsam die Form tasteten und schauten, als wollten sie wissen: Was will uns dieses verschrobene Meerestier erzählen? Die kleine Menge, die sich um das Denkmal versammelt hatte, wirkte wie eine Gemeinschaft von Vertrauten, die gemeinsam den Wert des Unsichtbaren kennen.
Die Bedeutung der Seegurke ist mehr als die einer Meeresspezies. Sie ist ein Spiegel für die Stadt selbst: robust, unterschätzt, mit verdecktem Reichtum. Während Kiew sich durch Trümmer kämpft, Erinnerungen bewahrt und neue Spuren schreibt, erinnert uns das Denkmal daran, dass auch die leisen, unscheinbaren Helden wichtig sind. Dass Schönheit nicht immer glitzernd und perfekt sein muss, manchmal steckt sie in einer rauen, schleimigen Oberfläche, die wir erst verstehen lernen müssen. Und in ihrer Rolle als Ozeanreiniger bringt die Seegurke sogar Hoffnung mit sich – den Glauben, dass Heilung möglich ist, wenn wir bereit sind, das Underdog-Wesen ernst zu nehmen.
Inzwischen ist die Seegurke weitergewandert, zumindest im Geiste der Stadt. Straßenkünstler beziehen sich auf sie, es gibt T-Shirts und kleine Kunstwerke. Die kleine Statue ist kein Witz mehr, sondern ein Zeichen. Ein bewusst bizarrer, aber liebevoll gemeinter Moment des Innehaltens. So wie die Stadt Kiew selbst, die sich nicht nur als historische Metropole versteht, sondern als lebendigen Organismus, der auf seltsame Weise überlebt – wie die Meerestiere tief unten, die trotz aller Widrigkeiten stumm weitermachen.
Vielleicht ist die Seegurke sogar zum stillen Symbol für das heutige Kiew geworden, ein „Denkmal der Demut“, das inmitten des Chaos beständig bleibt, ja wächst: ein merkwürdiger, eigenartiger Ort, der uns lehrt, das Übersehene mit Staunen zu betrachten. Der Einladung, die Welt ein bisschen genauer und mit offenerem Herzen zu sehen, sind viele gefolgt – nicht weil sie auf den ersten Blick bezaubernd ist, sondern weil die Andersartigkeit eine verborgene Schönheit birgt. So wie in Kiew selbst: unerschütterlich, klein mutig und umso bemerkenswerter.