Die Schokoladenkrise der Zartheit – Milka im grellen XXL-Zeitalter
In einem kleinen Café in der Altstadt von Freiburg, umgeben von der malerischen Kulisse der alten Fachwerkhäuser, bestellt eine gestresste Mutter ihrer Tochter ein Stück Milka-Schokolade. „Ich hoffe, die schmeckt noch so gut wie früher“, sagt sie nachdenklich, während sie auf das lilafarbene Verpackungsdesign deutet, das ihr vom Tisch her entgegenspringt. Unbewusst fasst sie über die glatte Oberfläche der Tüte, in der eine neue, verlockende Kreation auf dem vor ihr liegenden Teller ausliegt: „Xtreme Chocolate Crunch“. So viele Versprechungen in einem Namen, dass es schwerfällt, nicht zu schmunzeln.
Milka ist kaum wiederzuerkennen. Einst galt die Schokolade als Inbegriff der zartesten Versuchung – für viele der Inbegriff von Kindheitserinnerungen und gemütlichen Nachmittagen am Küchentisch. Doch heute, so scheint es, hat sich die Marke in ein grelles, überdimensioniertes XXL-Format verirrt, das eher als Kaufrausch denn als Genuss interpretiert wird. Das Unternehmen Mondelez, das sich dieser Marke verschrieben hat, tut sich schwer damit, den schmalen Grat zwischen Nostalgie und Innovation zu beschreiten.
In der Marktforschung sprechen sie von „Wachstum durch Diversifikation“. In der Welt der Schokolade bedeutet dies oft weniger Zartheit, stattdessen stehen XXL-Packungen und verrückte Geschmackskombinationen im Vordergrund. Auf den Social-Media-Plattformen, wo Influencer ihre neuesten „Snack-Rezensionen“ abgeben, zieht die auf der Verpackung lauernde lila Kuh kaum noch die Aufmerksam der Follower. Viel mehr glitzern und blitzen die hippen Snacks in den Feed der Generation Z. „Who needs Milka when you can have a salted caramel brownie with a sprinkle of sea salt?“, schwärmt eine Instagram-Story, die mit extravaganten Kürzeln und hastigen Selfies beginnt und endet.
Und während in Freiburg das Stück Milka-Schokolade auf dem Tisch liegt, blitzt ein handschriftlicher Kommentar am Kassenbon auf: „Zart ist die neue XXL-Variante nicht mehr.“ Gelegentlich packt das Café neue Kreationen des klassischen Hersteller hinzu – Überraschungen, die dann nicht nur die Kleinen im Haus erfreuen sollen. Doch dem Geschmack von Schokolade begegnet man je nach Alter und Herkunft mit gutem, alten Trotz.
Ein paar Straßen weiter, in einem kleinen Familienbetrieb, sitzt eine alte Frau hinter dem Glas ihrer Confiserie. Sie fertigt Pralinen in manueller Handarbeit, wie sie das schon seit Jahrzehnten tut. Auf ihrem Tisch steht eine absolut ungeschminkte Tüte Milka, die von alten Zeiten zu erzählen scheint. „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, murmelt sie leise vor sich hin, während sie lachend von ihren Erinnerungen plaudert. „Früher gab es die zarteste Versuchung in kleinen Stücken, die Lust auf mehr machten, heute lockt man mit Quantität – und wo bleibt das Gefühl?“ Die Bürgerlichkeit, die hier gelebt wird, ist nicht durch Marketingstrategien abgeworben worden, sondern durch Tradition und Handwerkskunst bewahrt.
Der Gang durch den Lebensmitteldiscounter enthüllt bei genauerem Hinsehen das schleichende Phänomen: Regale, die sich in die Höhe und nicht in die Breite ausdehnen, vollgepackt mit verführerischen XXL-Packungen. Hier schimmert Milka zwischen anderen Marken und übertrumpft deren Kleinformate mit Wucht. „Eine Flut an Produkten, die schmecken wie Zuckerwatte, aber nichts von dem, was wir einst als Schokolade kannten“, sagt ein Händler, der das Sortiment aufmerksam betrachtet. „Die Nachfrage prägt das Angebot – und die Menschen wachsen mit jeder umgehauenen Tafel zusammen. Aber wo bleiben die Werte, die wir den Jüngeren mitgeben?“
Die Kasse klingelt hinter ihm, ein Kunde mit einem prall gefüllten Wagen lässt sich nicht davon abhalten, die Schachtel XXL-Baumkuchen von Milka springend ins Einkaufskorb zu befördern. „Ich habe mehr als früher, vielleicht ja auch mehr Vielfalt!“, ruft er, nicht ahnend, dass die Füllung der Schokolade mehr Schein als Sein ist. Für ihn ist die Tüte Teil eines größeren Spieles, in dem der kleine Moment des Genusses von mehr und mehr gefüllt ist – es ist diese Sucht nach Überfluss, die die Schokolade verloren hat.
In den Werbungshallen, in denen Produktdesigner und Marketingstrategen ihre Träume lebendig werden lassen, zeigt sich der Druck der Zielgruppen. „Zart ist out, XXL ist in“, scheint das Mantra lauthals zu ertönen. Aber wo ist die Zartheit geblieben? Die leise Melodie der Schokolade, die sich sanft im Mund entfaltet, ist einem Gekreische gewichen. Schokolade kann nur dann verzaubern, wenn sie Teil eines kleinen Wunders bleibt – nicht als Masseneinheit in einem überdimensionierten Format.
In dieser schillernden Welt der Schokolade ist die klare Frage: Handelt es sich hierbei um eine progressive Evolution oder um einen Ausverkauf der Zartheit? Die Milka-Packung auf dem Tisch, das Lächeln der alten Confectionery-Frau und der Rausch der Konsumgesellschaft – sie stehen in einem ständigen Dialog. Zwischen den Regalen und in den gemütlichen Cafés, zwischen Tradition und Moderne brechen leise Klänge einer verlorenen Zartheit durch. Inmitten dieser bunten Schokoladenlandschaft bleibt nur die vielleicht tragische Erkenntnis: Je mehr Vielfalt, desto leerer wird der Genuss. Und so wird das beste Stück vielleicht nie wieder über das große Massenprodukt hinauskommen.