Im Sog der Zeit: Sylvain Berneron und der schmale Grat zwischen Wunderwerk und Uhrenalltag
Manchmal genügt ein einziges Ding, um den Puls der Zeit spürbar zu machen – eine neue Uhr zum Beispiel. Nicht irgendeine, versteht sich, sondern eine, die sich fast wie ein Naturereignis anfühlt: überraschend, eigensinnig, ein bisschen verstörend und doch irgendwie unwiderstehlich. Im Herbst 2023 war es genau das, was Sylvain Berneron mit seiner ersten eigenen Kreation gelang, der „Mirage“. Eine Uhr, die sich dem normalen Verständnis widersetzt, deren gewandelte Formen an die melancholisch-wilden Träume eines Salvador Dalí erinnern, deren gedrehte Zeiger fast so scheinen, als würden sie die Zeit selbst verflüssigen. Ein kleiner Knall in der sonst so korrekten Welt der Haute Horlogerie, deren klassische Codes sonst heilig sind wie transzendente Dogmen.
Die „Mirage“ war ein Blitzschlag: sofort ausverkauft, als hätte man ein Feuerwerk anzünden wollen, das kurze Zeit später verglimmt. Doch Berneron wusste selbst, dass dieser Startschuss nur das Vorspiel sein konnte. „Ich könnte meine Produktion verfünffachen und würde trotzdem für jedes Stück einen Käufer finden“, sagte er damals – als wäre ihm bewusst, dass aber genau in dieser dankbaren Phase auch eine Gefahr lauert. Denn wer einmal für eine Sensation gefeiert wird, steht mit dem nächsten Schritt vor der entscheidenden Frage: Kann das Kunststück wirklich wiederholt werden? Und vor allem – wie verwandelt man einen genialen Einzelgänger in einen soliden Begleiter fürs Leben?
Genau das will er jetzt mit der Quantième Annuel beweisen, seinem zweiten Kapitel in der eigenen Geschichte. Umwerfende Kurven? Fehlanzeige. Stattdessen begegnet uns hier das Uhrenhandwerk auf geradezu altmodische Weise – mit einer klassischen, hübsch symmetrischen runden Form, die eher an die ehrwürdigen Sammlerklassiker aus Genf als an Surrealismus erinnert. Schon beim ersten Blick scheint die Uhr zu sagen: Hier ist nichts inszeniert, hier gibt es keine Show – sondern Verlässlichkeit und Geduld. Doch eng blickt man hinter das Zifferblatt und das Gehäuse aus Platin, findet man eine ganz andere, komplexere Wahrheit: Während die „Mirage“ mit 135 Teilen schon als technische Herausforderung galt, enthält das Uhrwerk der Quantième Annuel ganze 450 Komponenten.
Es ist also eine Uhr, die zunächst brav aussieht, auf den zweiten Blick aber jeden Zweifel an Bernerons Fähigkeiten als Uhrmacher zerstreut. „Ich möchte nicht als ‚One-Trick-Pony‘ in Erinnerung bleiben“, sagt er. Die neue Uhr soll zeigen, dass hinter der verspielten Ästhetik des Debüts mehr steckt: ein ernsthafter Uhrmacher, ein Mann, der sein Handwerk versteht und zugleich bedacht vorausplant – eine Kunst zwischen kreativer Freiheit und technischer Meisterschaft.
Vielleicht liegt die wahre Brillanz der Quantième Annuel aber weniger in ihrer Komplexität als in ihrem pragmatischen Dasein. Berneron hat sich überlegt, wie echte Menschen eine Uhr nutzen wollen, nicht, wie sie einer gesichtslosen Masse imponieren könnten. Das Zifferblatt erzählt seine Geschichte mit einer Klarheit, die fast wirkt wie eine kleine Bastion gegen die Überforderung unserer Zeit: Lesen von oben nach unten zuerst die Stunde, dann die Minuten – und wer das Datum will, verfolgt den Blick von links nach rechts. Kein Drama, kein Schnickschnack. Ein kleines Manifest der Einfachheit in einer Welt, die den Alltag zunehmend künstlich verkompliziert.
Und noch eine Idee steckt in diesem Entwurf: der Schutz des Unsichtbaren. Denn die Quantième Annuel trägt austauschbare Stahllamellen, die das empfindliche Platingehäuse wie eine Rüstung vor Kratzern und Dellen bewahren. Diese Mischung aus Kostbarkeit und Robustheit, aus Sensibilität und Alltagstauglichkeit wirkt fast wie ein Spiegel der Ambivalenz moderner Uhren – einer Zeit, in der Technik und Lebensstil, Kunst und Nutzen eine stille, oft schwer austarierbare Balance finden müssen.
Interessant ist auch, wie Berneron mit seinem neuen Kalender umgeht. Statt auf einen ewigen Kalender zu setzen, der bis ins Jahr 2100 ohne Nachjustierung auskommen würde, hat er sich bewusst für einen Jahreskalender entschieden. Ein Kompromiss? Vielleicht. Doch ein kluger, bedachter Schritt, der zeigt, dass er nicht der großen Show hinterherjagt, sondern den Dialog mit den Uhrenliebhabern sucht. Jenen Sammlern, die eben genau so eine Uhr tragen wollen – eine Wahl für den Alltag, nicht fürs Museum.
Hinter all dem steckt jedoch auch ein bewusster Blick in eine Zukunft, die noch lange nicht geschrieben ist. Während viele Jungunternehmer und Visionäre ihre Zukunft als eine Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn beschreiben, spricht Berneron von einem exakten Plan für das nächste Jahrzehnt. Bis 2035 weiß er, dass er etwa 600 Stück seiner Uhren bauen will, eine durchaus mutige Zielsetzung für eine unabhängige Uhrenmarke. Und seine dritte Kollektion, die „Fiasco“ heißen wird, soll ganz anders werden: als Spielwiese für hochkomplexe Schmucktechniken, als Ausdruck von Luxus in einer Dimension, die er bislang noch nicht betreten hat.
Es ist, als wolle er mit großer Behutsamkeit alle offenen Fragen und möglichen Stolpersteine seiner jungen Marke akribisch ausmerzen. Ein Jongleur, der nicht nur mit brillanten Entwürfen spielt, sondern auch den Boden nicht aus den Augen verliert. „Es wäre naiv zu glauben, die Mirage würde 50 Jahre lang das Stadtgespräch bleiben“, sagt er mit einer Selbstverständlichkeit, die erkennt, wie schnell sich Ruhm verflüchtigen kann.
In der Welt der Uhren, so erzählt die Geschichte Bernerons, ist es nicht das eine, bahnbrechende Modell, das eine Marke begründet. Es ist die Fähigkeit, sich neu zu erfinden, Mehrwert zu schaffen, den sich Sammler immer wieder neu erschließen möchten – und eine nahezu stoische Geduld gegenüber dem Wandel. Dass die schwierigste Prüfung eine zweite Uhr ist, eine zweite Chance, steht für ihn außer Frage. Weil sie nicht einfach ein Produkt, sondern das Fundament einer Idee ist. Einer Idee davon, wie man eine Marke baut – nicht nur eine coole Uhr.
Wenn man Sylvain Berneron dabei zusieht, wie er mit stillem Ehrgeiz an seine zweite Kollektion arbeitet, fühlt man sich beinahe erinnert an jene großen Uhrmacherhäuser, die nicht auf den Hype setzen, sondern auf die Beharrlichkeit der Zeit. Patek Philippe, Cartier, Rolex – Namen, die für nachhaltigen Erfolg stehen. Von ihnen lässt sich Berneron inspirieren, und das hat mehr mit Weitblick als mit Träumerei zu tun.
Die Quantième Annuel ist mehr als eine zweite Uhr. Sie ist das erste Kapitel einer langen Erzählung, die mithilft, aus einem Aufbruch ein Zuhause zu schaffen. Und gerade darin liegt der wahre Zauber: Nicht im Blitzlicht des ersten Moments, sondern in der stillen, beharrlichen Anwesenheit über Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinweg. Genau das macht den Unterschied. In einer Welt, die von schnellen Sensationen lebt, braucht es eben auch diese eine Uhr, die einfach da ist – im stillen Dienst der Zeit.