Jenseits des Sieges: Wie China seine Rolle im Zweiten Weltkrieg neu schreibt
Sie sitzen in einem urgemütlichen Café in Peking, umgeben von warmem Holz und dem Duft frisch gebrühten Oolong-Tees. Auf einem kleinen Tisch liegt ein Buch aufgeschlagen, dessen Titel nicht sofort ins Auge fällt: „Chinas großer Krieg – Vergessen und Gedächtnis.“ Davor, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, der die Seiten mit einer Mischung aus Stolz und Bitterkeit umblättert. Wang Guoping, Jahrgang 1945, erinnert sich genau an die Geschichten, die sein Großvater ihm erzählte – Geschichten vom Widerstand, vom blutigen Kampf gegen die japanische Invasion, doch auch von einer Geschichte, die oft verschwiegen wurde.
Der Zweite Weltkrieg – in der chinesischen Erzählung nicht nur ein globaler Konflikt, sondern eine andauernde Baustelle im kollektiven Gedächtnis. Acht Jahrzehnte nach Kriegsende ist die Auseinandersetzung mit der Rolle Chinas und der Kommunistischen Partei keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil, sie flammt immer wieder auf, geprägt von staatlicher Propaganda, historischen Debatten und nicht zuletzt den geopolitischen Interessen eines aufstrebenden Riesen.
China und der Zweite Weltkrieg – ein Beziehungsgeflecht aus Sieg und Verdrängung, aus politischem Kalkül und persönlichen Schicksalen. Während im Westen häufig die Alliierten unter Roosevelt, Churchill und Stalin im Fokus stehen, kämpft die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) darum, ihren Anteil am Sieg gegen Japan nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu instrumentalisieren. Nicht gerade ohne Ambivalenz: Denn der Krieg war nicht nur ein Kampf gegen den äußeren Feind, sondern auch ein Bürgerkrieg in der Auslage, ein Konkurrenzkampf um die Deutungshoheit der Geschichte.
In Peking, unweit des Hauptsitzes der KPCh, befindet sich ein neu errichtetes Museum. Statt großspuriger Monumente zeigt es intime Porträts von kämpfenden Dorfbewohnern, von Frauen in einfachen Bauernkleidern, von Kindern, die zwischen den Fronten aufwuchsen. Jede Figur erzählt eine andere Geschichte, eine Nuance im Kaleidoskop des chinesischen Widerstands. Die Ausstellung suggeriert: Der Kampf war nicht nur eine Aufgabe der kommunistischen Guerilla, sondern ein nationaler Triumph, der alle Chinesen vereinte.
Doch der Schein trügt. „Wir schreiben Geschichte nicht nur, um sie zu bewahren“, sagt Li Jie, Historikerin an der Beijing University, „sondern auch, um daran zu erinnern, wer heute China regiert.“ Die Friktionen zwischen der KPCh und der Kuomintang – den Nationalisten, die damals von Chiang Kai-shek angeführt wurden – sind in offiziellen Darstellungen nicht einfach ausgelöscht, aber doch stark durch eine parteipolitische Brille betrachtet. Der gemeinsame Widerstand gegen die Japaner wird zum Teil einer Legende, in der die KPCh als motorische Kraft erscheint, während die Nationalisten eher als zögerliche Akteure gelten.
Auf der Straße treffen wir Xiao Yan, eine 28-jährige Lehrerin, die gerade ihren Geschichtsunterricht vorbereitet. Für sie ist der Krieg genauso relevant wie für die Großeltern. „Wir lernen in der Schule, dass der Widerstand gegen Japan unser Gründungsmythos ist“, sagt sie. „Aber ich frage mich manchmal, warum so wenig über die Verwicklungen danach gesprochen wird. Über den Bürgerkrieg, über die Folgen für mein Dorf.“ Ihre Worte berühren jene Bruchstellen, die in der offiziellen Erzählung gerne übersehen werden: Wie spaltet sich Erinnerung, wenn der gleiche Krieg zwei unterschiedliche Narrative hinterlässt?
Territorium ist ein weiteres Schlachtfeld der Erinnerung. Im Südchinesischen Meer, wo Chinas Anspruch auf mehrere Inselgruppen faktisch mit internationalen Gewässern kollidiert, sieht man den Krieg als historische Rechtfertigung. In Parolen und offiziellen Reden wird argumentiert, dass der Sieg über Japan nicht nur die Befreiung vom kolonialen Zugriff markierte, sondern auch den Anspruch auf territoriale Integrität festigte. Das verlangt die Partei vehement ein – mit militärischer Präsenz, aber vor allem mit einer Theorie, die Geschichte als Landkarte liest.
Ein Blick in die Medien offenbart, wie dieses Narrativ aufbereitet wird. Dokumentationen, große TV-Produktionen und Schulbücher zeichnen ein eindringliches Bild vom glorreichen Sieg der chinesischen Volksarmee, vom heldenhaften Kampf der Kommunisten. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen historischer Wahrheit, Propaganda und nationaler Identität. Für viele Chinesen ist der Krieg weniger Geschichte als eine Ressource, um die Legitimität der heutigen Ordnung zu stützen.
Doch abseits der Zentren spielt die Erinnerung eine ganz andere Rolle. Im Norden, wo einst blutige Kämpfe tobten, erzählen alte Dorfbewohner noch immer von schrecklichen Verlusten, von geteilten Familien, von Verrat und Angst. Ihre Erzählungen widersprechen oft der offiziellen Dichtung. Für sie existiert Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit – als lebendige Erfahrung, die sich nicht in museale Effekte pressen lässt.
Im weltweit vernetzten Informationszeitalter hinterfragt ein wachsender Teil der chinesischen Jugend diese vereinfachten Darstellungen. Über soziale Medien und internationale Reisen kommen alternative Narrative ins Land – kontroverse Dokumentationen, kritische Bücher, persönliche Memoiren. Ein junger Blogger schreibt: „Warum feiern wir nur den Sieg der Partei und vergessen die Menschen?“
Auf der anderen Seite ist jene Herausforderung auch ein Signal für das Bemühen der Staatsführung, Kontrolle über das historische Gedächtnis zu behalten. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist in China kein rein akademisches Thema. Sie ist eine Bühne, auf der Gegenwart und Zukunft verhandelt werden.
Noch immer liest man in den Gesichtern der alten Generation jene feinen Linien, die viele Narben zeichnen. Sie tragen eine Geschichte, die weder Schwarz noch Weiß ist. Eine Geschichte vom Überleben, vom Kampf um Würde, und von einer Zukunft, die sich an der Vergangenheit misst, aber nicht in ihr gefangen sein will.
In einem Land, das so beharrlich seine Rolle im großen Krieg betont, erzählt der Umgang mit der Erinnerung zugleich viel über die Gegenwart: über Macht, Identität und jenen historischen Grat zwischen legitimer Erinnerung und politischer Instrumentalisierung. Die Gewissheit aber, dass Geschichte niemals nur eine Geschichte ist, klingt leise in den Stimmen jener mit, die zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Fronten denken, und für die Erinnerung einen Freiraum suchen.